Das Buch der Vampire 03 - Blutrote Dämmerung
Sie konnte sich kaum noch daran erinnern, wann sie zuletzt geweint hatte. Ihre Hand glitt über die Vorderseite ihrer weiten Tunika und des geschlitzten Rockes - seit ihre Mutter zu weit weg war, um auf angemessenerer Kleidung zu bestehen,
trug sie nur noch diese praktische Kluft -, dann fühlte sie durch den Stoff hindurch die beiden vis bullae , die an ihrem Nabel hingen. Eustacias war die rechte, und Victoria schloss nun für einen Moment die Finger darum … und ließ ihren Gefühlen freien Lauf.
Kapitel 2
In welchem unsere Heldin eine widerwärtige Entdeckung macht
I ch habe den Eindruck, dass Zavier von unserer neuen Illa Gardella mehr als bezaubert ist.« Michalas warf Victoria unter seinem breitkrempigen Hut hervor einen verschmitzten Blick zu, während sie mit flotten Schritten die Via Merulana entlangliefen. »Vielleicht hätte ich ihm anbieten sollen, uns zu begleiten.«
Victoria war froh über die Dunkelheit, denn es wäre ihr schrecklich gewesen, wenn er die Röte auf ihren Wangen bemerkt hätte. Wenngleich er die leichte Tönung womöglich der eisigen Februarluft zugeschrieben hätte, denn ihre Nasenspitze war kalt und vermutlich ebenso rot. »Vielleicht hätten Sie das tun sollen, allerdings hätten wir dann vermutlich eine Geschichtsstunde über uns ergehen lassen müssen.«
Michalas gluckste leise, dann winkte er sie weiter. »Da haben Sie wahrscheinlich Recht.«
Victoria war sich natürlich des Interesses, das der Schotte an ihr bekundete, durchaus bewusst, trotzdem war es ihr ziemlich unangenehm, dass auch andere es bemerkt hatten. Aber welche Rolle spielte es letztendlich schon? Zaviers freundliche, aufmerksame Art war so ganz anders als die ungezwungene Korrektheit ihres Ehemanns Phillip … oder der goldene, überwältigende Charme Sebastians.
Die Erinnerung an den Franzosen und daran, wie sie sich letzten Herbst in einer Kutsche von ihm hatte verführen lassen, versetzte ihre Gefühle in Aufruhr, deshalb beschleunigte sie ihre Schritte, während sie neben Michalas weiterging.
Sebastian war der Ur-Ur-Ur-(sie wusste nicht, wie viele Generationen genau)-Enkel des legendären Vampirs Beauregard. Da dieser erst zu einem Untoten gemacht worden war, nachdem er bereits einen Sohn gehabt hatte, war kein Vampirblut an die folgenden Generationen weitervererbt worden. Sebastian war genauso sterblich wie Victoria, aber trotz ihrer intimen Beziehung konnte sie ihm nicht uneingeschränkt vertrauen, denn zum einen schien er ständig wie von Zauberhand aufzutauchen und wieder zu verschwinden - üblicherweise dann, wenn Vampire oder andere Bedrohungen im Spiel waren -, zum anderen machte er keinen Hehl daraus, dass seine Loyalität gespalten war.
Deshalb hatte Sebastian das letzte Jahr damit verbracht, eine Balance zu finden zwischen seiner Ergebenheit gegenüber seinem Großvater und … wie würde er wohl seine Beziehung zu Victoria beschreiben? Als Faszination? Zuneigung? Katz-und-Maus-Spiel?
Sie schnaubte verächtlich, auf eine Weise, die bei ihrer Mutter
unweigerlich eine Hustenattacke ausgelöst hätte, wäre sie hier gewesen. Aber glücklicherweise war sie weit weg, in London, wo ihr ein verliebter Lord Jellington zweifellos den Hof machte und sie sich ansonsten damit vergnügte, mit ihren beiden alten Freundinnen Lady Nilly und Herzogin Winnie den neuesten Klatsch auszutauschen.
Aber wie würde Victoria selbst ihre Beziehung zu Sebastian definieren? Als missglücktes Stelldichein? Oder auch als geglücktes … das hing ganz davon ab, von welcher Warte aus man es betrachtete. Als eine Affäre?
Sie versuchte, so wenig an ihn zu denken, wie er dieser Tage vermutlich an sie dachte, jetzt, da sein Großvater die Straßen Roms unsicher machte, Menschen attackierte und ihr Blut trank, wann immer es ihm gefiel, während er sorgfältig darauf achtete, nicht gefasst zu werden. Ganz gleich, welche Gefühle Victoria für Sebastian auch hegen mochte, sie hatte die Pflicht, Beauregard zu stellen und ihm einen Pflock in seine jahrhundertealte Brust zu stoßen.
Aber einmal zumindest musste Sebastian offensichtlich seit letztem Herbst an sie gedacht haben, denn es war ihm irgendwie gelungen, im Anschluss an die schrecklichen Ereignisse jener langen, blutigen Nacht Eustacias vis bulla an sich zu bringen und sie ihr,Victoria, zu schicken. Wie er an sie gelangt war, darüber konnte sie nur Vermutungen anstellen, aber allein die Tatsache, dass er sie ihr zugesandt hatte, grenzte an ein Wunder.
Und dann war da
Weitere Kostenlose Bücher