Das Buch der Vampire 03 - Blutrote Dämmerung
gesehen zu haben.
Es konnte kein Zufall sein, dass er ein weiteres Mal dort gewesen war. Nicht heute Nacht.
Nicht nach dem, was mit Zavier und Nilly geschehen war. Nicht nach dem, was Beauregard getan hatte.
Mit zusammengepressten Lippen folgte sie ihm.
Sobald Max sich zu regen begann, hörte Wayren auf, das empfindliche, gewellte Manuskript zu lesen, mit dessen Studium sie sich die Zeit vertrieben hatte. Sie verstaute es zusammen mit der rechteckigen Brille in ihrer alten Ledertasche, dann wartete sie.
Sie wusste nicht, wie lange es dauern würde, bis Max vollständig wach wäre, aber da er sich gerade zum ersten Mal leise bewegt hatte, ging sie davon aus, dass es bald geschehen würde. Sie wusste, dass sie hier sein musste, wenn er zu sich kam. Während der ganzen Zeit war sie nur ein einziges Mal weggerufen worden: als man Stunden zuvor den bewusstlosen Zavier ins Konsilium gebracht hatte und kurz darauf Victoria eingetroffen war.
Wayren war nicht übertrieben empfindlich, doch die Erinnerung an Victorias Gesicht beim Anblick Zaviers, die Fassungslosigkeit, Wut und Furcht, die über ihre schönen Züge geglitten waren, würde sie so schnell nicht vergessen.
Eine solch schreckliche Wut.
Sie flößte ihr Angst ein.
Max’ leises Stöhnen lenkte sie von ihren Gedanken ab. Die goldene Scheibe lag, ihre Kette einer Schlange gleich um sie gerollt, auf dem Tisch neben ihm. Er bewegte sich wieder, wurde langsam ruhelos, hob seine große Hand, so als wollte er irgendetwas abwehren, dann ließ er sie schwer auf den Tisch fallen, sodass die Lampe und die Ohrstecker, die seiner Schwester gehört hatten, erzitterten.
In der Hoffnung, ihn zu beruhigen, nahm Wayren seine warme Hand zwischen ihre beiden kleineren, wobei sie seine aufgeschürften Fingerspitzen und die eingerissenen Nägel bemerkte, die aussahen, als hätte er versucht, eine Mauer zu erklimmen.
Sie wusste vieles über die Vergangenheit und die Zukunft, über mögliche und über wahre Dinge, über Gut und Böse … trotzdem wusste sie nicht, ob Ylitos Rechnung aufgehen würde. Sie würde es erst erfahren, wenn Max wach war und sie das goldene Pendel benutzt hatte, in dem sie seine Erinnerungen verwahrte.
Als hätte sie ihn mit ihren Überlegungen aufgeweckt, schlug er nun plötzlich die Augen auf, die dunkel und klar waren. Sie ließ seine Hand los und beobachtete, wie sich seine Finger verkrampften.
»Max.«
Er setzte sich halb auf, sodass ihm die Decken auf die Hüfte rutschten, dann schaute er sie an. »Ja. Wo bin ich?«
Sie sah, dass die Bissmale verschwunden waren. Sein Hals, der in einer anmutigen Linie in seine breiten, kräftigen Schultern überging, war glatt und unversehrt. Doch er schien seinen
Namen wiederzuerkennen und sich in seinem Körper wohl zu fühlen.
»Du bist in Sicherheit, Max. Ich bin Wayren.« Sie wartete ab.
Er nickte, doch sie wusste, dass er sich nicht erinnerte. »Wayren. Warum bin ich hier? War ich krank?«
»Auf gewisse Weise ja. Bitte trink dies, anschließend werde ich dir alles erklären.« Sie reichte ihm einen Metallbecher, der mit einem weiteren von Ylitos Kräutersuden gefüllt war.
Er zögerte, schnupperte daran. Zögerte noch immer.
Sie lächelte. »Wenn ich dich töten wollte, hätte ich dazu ausreichend Gelegenheit gehabt, während du geschlafen hast.«
Er nickte, dann trank er.
Als er wieder aufsah, ließ Wayren das Pendel in ihrer Hand kreisen. Sie begann vor sich hin zu murmeln, um die spirituellen Kräfte herbeizurufen und um Hilfe zu bitten, während sie beobachtete, wie sein Blick von der runden Scheibe gebannt wurde.
An der plötzlichen Anspannung seines Gesichts und seiner Schultern, dem vertrauten, scharfen Ausdruck seiner Augen erkannte Wayren sofort, dass sein Erinnerungsvermögen zurückgekehrt war. Er streckte die Hand nach seiner winzigen, grazilen vis bulla aus und hob sie auf, dann schloss er die Augen und holte tief Luft.
Als er sie kurz darauf wieder öffnete, lag ein trostloser Ausdruck in ihnen. »Nichts. Ich fühle nichts.«
Wayren nickte. »Aber du erinnerst dich.«
»Ja.« Er schwang die Füße vom Bett. »Wie spät ist es? Ich muss gehen.«
»Es ist Mittag. Aber du kannst nicht einfach so davonstürzen, Max.«
Er war inzwischen halb aufgestanden, doch bei ihren Worten ließ er sich schwer wieder aufs Bett sinken. »Natürlich nicht. Ich bin nur noch die Hülle eines Venators. Ich verfüge über das Wissen und die Fähigkeiten, jedoch nicht über die erforderliche Kraft
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