Das Buch der Vampire 03 - Blutrote Dämmerung
Buchstaben lesen konnte, entzifferte sie dennoch genug, um eine Schlussfolgerung ziehen zu können: Die Person, die mit dem harten Gipsbonbon nach ihr geworfen hatte, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen, musste Sarafina Regalado gewesen sein.
Doch nun stellte sich die Frage, was Max’ ehemalige Verlobte mitten in der Nacht an der Gruft ihrer Familie zu suchen hatte.
Kapitel 5
In welchem eine Nachricht überbracht wird
I n der letzten Karnevalsnacht war der Corso von Lichterglanz erfüllt.
Die gesamte Einwohnerschaft Roms schien sich in der breiten Strada und ihrer angrenzenden Piazza zu drängen, bevor sie sich in die schmalere Ripetta und andere Straßen verteilte. Jeder der Passanten trug in einer Hand eine große, gedrehte Kerze, auch Moccoletto genannt, und in der anderen eine lange Rute, an deren Spitze ein Taschentuch hing. Die hellen Flammen tanzten auf und ab und tauchten dabei die Gebäude, maskierten Gesichter und eleganten Kutschen in ihren goldenen Schein, während die Feiernden mit ihren Taschentüchern nach den Flammen anderer Kerzen wedelten.
Das Spiel bestand darin, die Kerze eines anderen zu ersticken, bevor die eigene gelöscht wurde, was der ausgelassenen Menschenmenge großes Vergnügen zu bereiten schien.
Victoria hatte nie zuvor etwas gesehen, das diesem Lichtermeer glich, welches Tausende von Römern auf den Stra ßen erzeugten. Sie riefen sogar von den Balkonen herunter, die mit purpurfarbenen Tüchern drapiert waren - einer von ihnen musste Lady Melly und ihre Freundinnen beherbergen - und reckten dabei ihre Moccoli in die Höhe. Victoria konnte kaum atmen in der Enge der Straßen, die überfüllt waren mit Menschen und Kutschen. Der Geruch von brennendem Wachs und
der dicht gedrängten Menschenmenge überlagerte die eigentlich frische Nachtluft. Trotzdem war sie froh, dass die Gipsbonbon-Geschosse des Vorabends einer freundlicheren Atmosphäre und winkenden Taschentüchern gewichen waren.
Diese letzte Nacht des Faschingstreibens in den Stunden vor Aschermittwoch war die wildeste, lauteste und schönste Feier, die sie je erlebt hatte. Victoria hätte es zwar vorgezogen, das Ganze von einem hohen Landauer aus zu beobachten, aber sie hatte andere Verpflichtungen.
Ihr Stock war ein wenig dicker als die der anderen Feiernden. Tatsächlich war er nicht nur dicker, sondern am unteren Ende zudem zu einer tödlichen Spitze zurechtgeschnitzt.
Anstelle der langschnabeligen Falkenmaske von gestern hatte Victoria heute eine aufgesetzt, die sich besser handhaben ließ. Der obere Teil ihres Gesichts wurde von einer goldenen, mit glitzernden blauen und grünen Streifen sowie orange- und pinkfarbenen Schnörkeln bemalten Maske bedeckt, aus der nichts hervorragte, das sich an irgendeiner nahen Schulter verfangen konnte. Weiße Federn sprossen oben und an den Seiten aus ihr hervor, und von den Rändern hingen gelockte, rote Bänder bis auf ihre Schultern. Ihr Mund und ihr Kinn blieben frei, was ihr den Genuss der köstlichen gerösteten Maroni und auch das Sprechen sehr viel leichter machte als die Maskierung des Vorabends.
» Senza moccolo! «, brüllte ihr ein als Bandit verkleideter Mann ins Ohr und schwang seine Rute zu ihrer Kerze.
Victoria schirmte sie, so wie sie es rasch gelernt hatte, mit der Hand ab, wobei sie mit der anderen nach dem Taschentuch ihres Gegenübers griff und ihm den Stock abnahm. Mit einem
Nicken warf sie das Taschentuch weg, verzichtete jedoch darauf, die Kerzenflamme des Mannes zu löschen.
Zavier beobachtete das Ganze. »Sie sind sehr schnell.« Er lächelte sie unter dem breitkrempigen Sombrero hervor an, den er für diese Nacht gewählt hatte. Victoria wusste nicht, wie es ihm gelungen war, ohne Maske davonzukommen, während Ilias bei ihr auf einer bestanden hatte. »Sie schützen Ihre Kerze auf dieselbe Weise, wie Sie die Menschen dieser Stadt schützen.«
»Das hier ist Wahnsinn.« Victoria sah sich nach allen Seiten um. Überall um sie herum waren große, bemalte Masken und Hunderte von Schultern, Hälsen und Kehlen zu sehen. Die ausgelassene Senza - moccolo -Prozession war bis auf Armhöhe verdunkelt und gleichzeitig von oben in Licht getaucht. Hier herrschte ein dichteres Gedränge als in jedem Londoner Ballsaal, und die Prozession bewegte sich gleichermaßen schrecklich wie atemberaubend durch die Nacht. »Selbst wenn ich sicher wüsste, dass ein Vampir in der Nähe ist, würde ich ihn niemals ausmachen geschweige denn stellen können.« Victoria musste fast
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