Das Buch der Vampire 03 - Blutrote Dämmerung
schreien, um in dem Tumult überhaupt gehört zu werden.
»Ja, deshalb sollten wir vielleicht einfach mitfeiern, bis um Mitternacht die Kerzen gelöscht werden und alle nach Hause gehen.« Die Intensität, mit der er sie ansah, während sein Hut die Federn ihrer Maske berührte, verursachte ihr ein warmes Bauchkribbeln.
Aber noch bevor Victoria etwas erwidern konnte, spürte sie plötzlich einen Hauch in ihrem Nacken, der gleich darauf zu eisiger Kälte wurde. Ein Untoter war ganz in ihrer Nähe. Sie
drehte sich um, so schnell, dass sie, während sich die maskierten Menschen an ihr vorbeidrängten, mit der Schulter einen Engel anrempelte, dann einen Zigeuner und anschließend eine Eule.
Sie suchte Zavier und erkannte, dass er die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen hatte, so als hätte auch er etwas gespürt und die Verfolgung aufgenommen. Obwohl sie sich darüber einig waren, wie schwierig es war, in diesem Gedränge einen Untoten auszumachen, würden sie trotzdem beide nicht tatenlos zusehen, wie hier ein Vampir sein Unwesen trieb.
Sie und Zavier waren inzwischen ein gutes Stück voneinander getrennt, als Victoria sich wieder umdrehte und erneut gegen den Strom von Menschen andrängte, wobei sie unentwegt nach einem Paar roter Iriden hinter den vorbeiziehenden Masken oder einer verkleideten Sarafina Regalado Ausschau hielt.
Sie schloss für einen Moment die Augen, um die Richtung zu ermitteln, welche die Kreatur eingeschlagen hatte, dann steuerte sie durch das Gewühl hindurch nach links. Die Kälte in ihrem Nacken verstärkte sich, während sie sich inmitten des Menschenstroms weiter vorarbeitete. Plötzlich entdeckte sie nur wenige Meter entfernt, in der Dunkelheit jenseits des ausgelassenen Treibens, zwei glimmend rote Augen in einem maskierten Gesicht.
Victoria schob sich mit der Schulter durch die Menge, die sich noch immer am Senza-moccolo -Spiel ergötzte, und pirschte sich an den Vampir heran, bis sie nahe genug war, um ihn berühren zu können. Ihr Nacken schien inzwischen mit einer Eisschicht überzogen zu sein, und sie verspürte diesen vertrauten Adrenalinschub, den die Gegenwart eines Untoten stets
bei ihr auslöste. Sie brachte ihren als Rute getarnten Pflock in Angriffsstellung, dann wandte sie ihm - oder ihr; sie war sich des Geschlechts der Kreatur nicht sicher - das Gesicht zu und schloss die Finger um seinen Arm.
Inmitten des dichten Gedränges mit all dem Gerufe, den wogenden Bewegungen, den auf und ab tanzenden Ruten hätte Victoria ihm völlig unbemerkt den Pflock in die Brust stoßen können, noch bevor er überhaupt begriff, dass sie ein Venator war. Aber das tat sie nicht.
Stattdessen sagte sie: »Richte Beauregard aus, dass der weibliche Venator nach seinem Enkel sucht.«
Er blickte mit blitzenden Fangzähnen zu ihr hinunter. »Ich bin kein Botenjunge.«
»Ach nein? Dann bitte ich um Verzeihung.« Behände brachte sie den Pflock nach oben und rammte ihn dem Untoten ins Herz.
Nach Art der Vampire implodierte er in einer Aschewolke, die auf die Feiernden herabregnete und eine zierliche, kleine Schafhirtin für einen Moment vergessen ließ, ihren Moccoletto zu bewachen, um sich den plötzlichen Staub von den Kleidern zu klopfen.
Das eisige Prickeln in Victorias Nacken hatte zwar nachgelassen, war jedoch nicht völlig verschwunden. Es waren noch weitere Vampire in der Nähe.Vielleicht würde einer von ihnen lieber den Botenjungen spielen, statt in ein Aschehäuflein verwandelt zu werden.
Andererseits hatte sie ihre Nachricht in der Vornacht, nachdem sie im Anschluss an Sarafina Regalados Entführungsversuch auf dem Friedhof wieder zum Karneval zurückgekehrt
war, schon zwei anderen übermittelt. Vielleicht würde das ja ausreichen, um mit Sebastian in Kontakt zu treten.
Mit noch immer kribbelndem Nacken begann sie, sich auf der Suche nach Zavier wieder durch die Menge zu schieben. Hinter sich hörte sie, wie die Schäferin empört aufschrie, als ihre Kerze gelöscht wurde.
Plötzlich prallte etwas von hinten gegen sie. Victoria taumelte und wäre hingefallen, hätte nicht der Rücken einer Pulcinella ihren Sturz abgefangen. Ihre Kerzenflamme flackerte in ihrem Bett aus Wachs, dann senkte die Pulcinella ihre Rute mit dem Taschentuch auf Victorias Moccoletto .
Sobald sie mit ihrer erloschenen Kerze in der Hand wieder festen Stand unter den Füßen hatte, fand sie sich plötzlich einem maskierten Mann gegenüber. Seine Augen waren nicht rot, aber welche Form oder Farbe sie
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