Das Buch der Vampire 04 - Brennendes Zwielicht
diesen Blick schon irgendwo anders gesehen zu haben. Doch wo?
Darüber konnte sie sich später Gedanken machen. Jetzt veränderte Victoria ihre Haltung ein wenig, sodass die Königin ihren Pflock sehen konnte. »Tretet zurück, Euer Majestät, sonst bin ich gezwungen, den hier zu benutzen.« Wieder achtete sie darauf, ganz leise zu sprechen, sodass nur die Königin sie hören konnte.
Die Ermordung der Königin würde wohl etwas schwieriger zu erklären sein … auch wenn sie ein Vampir war.
Caroline heftete ihren Blick auf Victoria. Ihre Augen loderten jetzt rot, und die Spitzen ihrer R eißzähne, die sich in die Unterlippe bohrten, waren zu sehen. Aber es gab nichts, was sie hätte tun können.
»Ihr könnt nicht hereinkommen«, sagte Victoria noch einmal und trat näher. Sie warf einen Blick auf die immer größer werdende Menge und fügte hinzu: »Der König hat es verfügt.«
Der Königin blieb keine andere Wahl. Sie trat zurück, ihr Gesicht erstarrt zu einer Maske aus Wut und Schmerz. Es war keine Anmut in ihrer Bewegung, als sie sich umdrehte und mit schweren Schritten die Treppe zu ihrer wartenden Kutsche hinunterstieg. Keiner wagte sich ihr zu nähern, und während die Menge alles beobachtete und hinter vorgehaltener Hand miteinander tuschelte, merkte Victoria, dass Sebastian seinen Arm um ihre Taille schlang.
Er zog sie schnell weg, ehe irgendjemand auf die Idee kommen konnte zu fragen, warum und wie sie es geschafft hatte, die Königin davon abzuhalten, die Westminster Abbey zu betreten, wenn fünf Preiskämpfer vorher nicht dazu in der Lage gewesen waren.
Wie sich herausstellte, wurde es in den später veröffentlichten Zeitungsberichten so dargestellt, als hätte sich die heftige Auseinandersetzung vor der Abbey, auf der Treppe zugetragen, und es wurde den fünf Männern zugeschrieben, dass es der Königin nicht gelungen war, an ihnen vorbeizukommen. Eine wunderschöne junge Frau mit dunklen Haaren und einem Pflock in der Hand wurde nie auch nur erwähnt.
Kurz nach der Abfahrt der Königin kam die Nachricht, dass sich der König aufgrund eines Risses in einem Kleidungsstück verspäten würde, und danach verlief die restliche Krönungszeremonie – die Victorias Meinung nach schrecklich lang und ermüdend war – ohne weitere Vorkommnisse.
Erst kurz vor drei begab sich die Gesellschaft mit dem frisch gekrönten König und seiner acht Meter langen Schleppe von der Abbey zur Westminster Hall. Die Schleppe war mit Goldfäden bestickt, und die Pagen (echte Pagen, keine Preiskämpfer diesmal), die die lange Bahn hielten, spannten diese, damit sie in ihrer vollen Pracht bewundert werden konnte.
Der König wankte leicht, als er schließlich die Abbey verließ. Schweiß strömte ihm übers Gesicht, und er war so bleich, dass er fast schon grau wirkte. Doch Victoria wusste, dass das nur mit der Menge an prunkvoller Kleidung – zu der auch ein für die Jahreszeit völlig unpassender Hermelinpelz gehörte – zu tun hatte und dem extrem langen, heißen Tag. Der König von England war kein Vampir.
Und tot war er auch nicht.
Aber Victoria war sich ziemlich sicher, dass er und wahrscheinlich auch einige seiner engsten Berater in großer Gefahr waren.
In der Westminster Hall aßen dreihundert Menschen an langen Tafeln, die die gesamte Länge des weitläufigen Raumes einnahmen. Victoria nahm nur wenig zu sich, weil sie ständig in Bewegung war und Ausschau nach ungewöhnlichen Ereignissen hielt. Es war noch helllichter Tag, und je länger sie darüber nachdachte, desto klarer wurde ihr, dass jeglicher Anschlag oder Übergriff erst dann stattfinden würde, wenn die Sonne untergegangen war.
»Wenn die Sonne untergeht«, raunte eine tiefe Stimme fast wie ein Echo ihrer Gedanken in ihr Ohr. Victoria wäre beinahe zusammengezuckt und stellte fest, dass Max hinter ihr stand, als sie sich umdrehte. Er trug immer noch diese verschlossene Miene zur Schau und wich hartnäckig ihrem Blick aus. Stattdessen schien er eher von ihrem Ohrläppchen fasziniert zu sein … oder von etwas, das sich hinter ihrer Schulter befand.
»Natürlich«, erwiderte Victoria steif. »Lilith ist nicht so dumm anzunehmen, dass die Königin es schaffen würde, in die Abbey zu gelangen. Auch wenn Caroline selbst das gedacht haben mag. Ich glaube nicht einen Moment lang, dass das tatsächlich Liliths Plan war.«
»Der König«, fuhr Max fort, als hätte sie gar nichts gesagt, »wird wohl in Kürze die Westminster Hall verlassen, um nach
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