Das Buch der Vampire 04 - Brennendes Zwielicht
sind.«
Es war nicht das erste Mal, dass Victoria sich über die alterslose Frau wunderte, doch jetzt war nicht der richtige Moment, um sich von Fragen ablenken zu lassen, die sie noch nicht beantwortet hatte. Und so setzten sie und Wayren sich gegenüber von Sebastian und Max in die Kutsche, während Kritanu darauf bestand, als Lakai auf dem Außensitz mitzufahren. Weil es unter Umständen gefährlich werden konnte, war Barth gebeten worden, heute als Kutscher zu fungieren, was man an dem R uck merkte, mit dem sich das Gefährt in Bewegung setzte.
Sebastian war ungewöhnlich schweigsam, und Victoria merkte, dass sein Blick immer wieder auf ihr ruhte. Er sah mit seinem goldenen Halstuch, das zu einem komplizierten Knoten geschlungen war, und der in Bronze und Kupfer gehaltenen Brokatweste, die er unter einem schokoladenbraunen Gehrock zu schwarzen Hosen trug, einfach herrlich aus.
Die üppige Löwenmähne, die bei der herrschenden Hitze etwas mehr hing als gewöhnlich, hob sich deutlich von den dunklen Polstern der Kutsche ab und strahlte auf der Fensterseite wie Honig, während sie auf der anderen Seite in einem hellen Braun schimmerte. Er wirkte wie eine glänzend polierte Statue aus Topas, doch das schurkische Lächeln, das normalerweise in seinen Augen schimmerte und seine Lippen zum Zucken brachte, war verschwunden.
Victoria sah zu Max hinüber, der mit finsterem Blick aus dem Fenster schaute. Er war ein bisschen größer als sein Sitznachbar – obwohl beide ungefähr gleich breite Schultern hatten – und bildete mit den strengen Gesichtszügen, der dunklen Haut und den schwarzen, geschwungenen Augenbrauen das dunkle Gegenstück zu Sebastian. Die Haare hatte er zu dem aus der Mode gekommenen Zopf zurückgebunden, statt die üppigen Wellen offen zu tragen. Vielleicht waren sie dafür aber auch zu lang. Sein Kiefer war zwar wie üblich energisch vorgeschoben, doch sein Mund wirkte seit ihrem Wortwechsel in der Eingangshalle nicht mehr so verkniffen. Victoria spürte, wie ihr plötzlich ein unerwarteter kleiner Schauer durch den Körper lief, als sie sich daran erinnerte, wie er sie an die kalte, nasse Mauer gedrückt und geküsst hatte. Seither hatte er sie kaum mehr angeschaut; und ganz gewiss hatte er nicht versucht, es zu wiederholen.
Im Gegensatz zu Sebastian.
Sie sah von einem Mann zum anderen, ohne es sich anmerken zu lassen, und dabei spürte sie ein seltsames Kribbeln. Es war schon komisch, die beiden so nebeneinander sitzen zu sehen, während beide sie anschauten – als wollten sie ihre Unterschiede in Persönlichkeit, Erscheinung und Vergangenheit herausstellen. Sie waren so verschieden … und doch so ähnlich.
Ihr Herz pochte schneller, und sie wusste nicht, warum.
Oder vielleicht wusste sie es doch.
Ihr Bauch war voller Schmetterlinge. Rasch wandte sie den Blick ab.
Die Kutsche fuhr jetzt langsamer, denn wegen der Zuschauermengen, die sich versammelt hatten, kam sie jetzt nicht mehr so gut voran. Die Menge wogte vor und zurück und wurde vom überdachten Weg ferngehalten, der für Seine Majestät errichtet worden war. »Dafür sind zwei Millionen Yard russisches Segeltuch verarbeitet worden!«, hatte Lady Winnie gekreischt, während ihre kleinen Augen ganz rund waren vor Fassungslosigkeit.
Als Angehörige des britischen Hochadels hätte sie Teilnehmerin der Krönungsprozession sein müssen, aber natürlich war es klüger, sich abseits zu halten, damit sie, wenn nötig, eingreifen konnte. Zweifellos würde Lady Melly eine Bemerkung darüber machen, dass sie nicht an der Prozession teilnahm, doch darum würde sie sich später kümmern.
Sie kamen an der Westminster Abbey eine Stunde vor dem erwarteten Eintreffen des Königs an. Dadurch hatten sie Zeit, sich umzuschauen und die Örtlichkeiten zu begutachten. Wayren verabschiedete sich kurz danach mit Barth und versprach, ihn mit der Kutsche zurückzuschicken, sobald sie zu Hause angekommen war.
Victoria und Sebastian befanden sich gerade in der Nähe des Haupteingangs zur Abbey, als eine große, prunkvolle Kutsche eine halbe Stunde vor dem Erscheinen des Königs eintraf.
»Ihre Majestät, Queen Caroline!«
Sie wechselten einen Blick und beobachteten dann, wie die korpulente Königin schwerfällig aus der Kutsche stieg.
»Gütiger Himmel, sie sieht krank aus«, sagte jemand leise, der neben Victoria stand.
Die Pflöcke griffbereit in der Hand, eilte sie mit Sebastian näher.
Als die Königin sich dem riesigen Eingangsportal der Abbey
Weitere Kostenlose Bücher