Das Buch der Vampire 04 - Brennendes Zwielicht
Eisen, der in der Luft hing, zu ignorieren und einen klaren Kopf zu behalten. Und so konzentrierte sie sich auf den tröstlichen Pflock, der tief in ihrer Tasche steckte, auf ihre eigene vis bulla unter ihrer Kleidung und auf ihre Umgebung. Die Eingangshalle von Brodebaugh Hall war leer und dröhnte fast vor Stille. Im ganzen Gebäude war es ruhig.
»Wo sind sie?«, fragte sie, während sie gegen den Geruch des Blutes kämpfte, gegen das Entsetzen, das sie gepackt hatte, und gegen den rosigen Schleier, der sich vor ihre Augen legen wollte.
»Bist du allein gekommen?« Gwendolyn schniefte und schaute sich hektisch um. »Wie kannst du … wie …«
»Ich kümmere mich darum«, erklärte Victoria ihr energisch. »Wo sind die Dienstboten?«
»Sie sind alle weg«, erwiderte Gwendolyn angsterfüllt. »Sie haben … sie hat sie alle mitgenommen.« Wieder schaute sie über Victorias Schulter zur Tür hinaus, als erwartete sie, dort eine ganze Armee zu sehen. »Außer dir ist keiner mitgekommen? Aber, Victoria …«
Ihr reichte es jetzt mit dem hysterischen Getue. Victoria riss den Pflock aus der Tasche und stieß Gwendolyn gegen die Wand, ehe das Mädchen auch nur einen zweiten Atemzug tun konnte. Oder einen weiteren falschen Schluchzer von sich gab. Ihre Hand schloss sich um Gwens Kehle, und sie setzte ihr den Pflock auf die Brust. »Sag mir, wo sie sind, oder du wirst zu Staub.«
Gwendolyn ließ ihre Maske fallen. Ihr hübsches Gesicht, das von der häufigen Verwendung des Elixiers grau und müde geworden war, verzog sich zu einer bösartigen Grimasse. Ihre Augen traten hervor und wandelten sich innerhalb eines Moments von blau zu rot. »Woher hast du es gewusst?«
»Ich habe es schon eine ganze Weile vermutet«, sagte Victoria, während sie merkte, dass ihr Nacken angefangen hatte kalt zu werden. Gwen war also nicht der einzige Vampir im Haus. »Du warst immer da, wenn es zu einem Angriff am helllichten Tage kam. Ich konnte sehen, wie der Trank seinen Tribut an deinem Gesicht forderte, aber ich hielt es erst für Erschöpfung wegen der Heiratspläne.« Sie legte ihre Finger fester um Gwens Hals, sodass das Mädchen husten musste, und begann an ihrer Hand zu zerren, um sie wegzureißen. »Doch als ich gestern die Königin sah, erkannte ich, dass da ein bestimmter Schatten in den Augen eines Untoten liegt, der bei Tage umgeht. Bei allen war dieser Schatten zu sehen: bei James, Caroline, ihren Leibwächtern. Und bei dir.«
»James.« Gwen trat nach ihr, aber Victoria war vorbereitet gewesen.
Der kleine spitze Fuß, der voll untoter Kraft war, streifte das Bein nur, das er hatte treffen wollen. »Ihn hast du auch umgebracht! Du hast meinen Liebsten umgebracht!«
»So war das also.« Victoria wusste, dass sie wertvolle Zeit verschwendete, aber sie musste einfach mehr in Erfahrung bringen. Und die Gründe herausfinden. »Du hast ihm geholfen, dass er seinen Platz als Erbe von R ockley einnehmen konnte.«
»Ich hatte keine andere Wahl, da der andere, der erste, ja tot war. Ich wollte Phillip heiraten, und du hast ihn mir weggenommen. Ich hatte ihn zuerst gesehen, aber dann hattest du dein Debüt, und schon war er völlig in dich vernarrt. Ich hatte keine Chance mehr bei ihm.« Gwens Stimme war durch die Hand, die ihr die Kehle zudrückte, ganz rau, aber noch immer klang der Trotz durch. »Und dann James. Wir wären so glücklich miteinander geworden. Ewige Jugend! Und R eichtum.«
Victoria sah das Mädchen an, das ihre Freundin gewesen war, und fragte sich, wie eine so reizende junge Frau so böse hatte werden können.
Alles Böse beginnt im Ich.
»Du hattest also gar nicht vor, Brodebaugh zu heiraten?«
Gwen gab ein ersticktes Lachen von sich. »Oh doch, wir wollten heiraten. Und dann wäre er eines plötzlichen Todes gestorben, und ich hätte Trost in den Armen des Marquis’ von R ockley gefunden. Wir hatten das seit Monaten geplant!«
»Wie lange bist du schon untot?«
»Erst seit George aus Italien zurückgekehrt ist. Er brachte Malachai mit – du kennst ihn als James. Als ich ihn kennen lernte, wusste ich, dass die Tutela nicht genug für mich war. Ich wollte Unsterblichkeit.« Sie stieß ein krächzendes, bösartiges Lachen aus. »Ich wollte seit Jahren Rache an dir nehmen, Victoria Gardella … seit du den Mann geheiratet hast, den ich für mich haben wollte. Ich wollte dich schon letzten Sommer bei der Feier sterben lassen, als die Vampire sich Polidori holten. Aber du hast mit ihnen gekämpft. Du und
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