Das Buch der Vampire 04 - Brennendes Zwielicht
werden, als sie auf einen mit Kieselsteinen befestigten Weg trat, der am Gebäude entlang führte. Sie nahm an, dass Kritanu sich immer noch in der Kapelle aufhielt, wo sie ihn gestern Nachmittag zurückgelassen hatte, um sich James beim Dinner anzuschließen. Eigentlich hatte sie gestern Abend noch einmal nach ihm sehen wollen. Aber der Sherry und Sebastians Besuch in ihrem Schlafzimmer hatten sie früher als geplant zu Bett gehen lassen.
»Victoria«, begrüßte Kritanu sie, als ihr Schatten in die Kapelle fiel. Sie schloss die Tür hinter sich und ging durch den Mittelgang auf ihren Lehrer zu.
Er befand sich neben dem Altar und hatte eine seiner komplizierteren Yoga-Haltungen eingenommen: Er balancierte mit lang gestreckten Armen auf Brust und Schultern auf dem Boden und die nach oben ragenden Beine waren im Knie angewinkelt, sodass die Füße den Kopf berührten. Zum Stabilisieren des hoch gereckten R umpfes bildeten die gestreckten Arme, deren Hände zusammengelegt waren, ein V. Sie sah ihm zu, wie er in einer langsamen, fließenden Bewegung die eingenommene Stellung beendete, in der sie die Übung shalabhaasana , die Heuschrecke, wiedererkannt hatte.
Zwar hatte Kritanu ihr einige Yoga-Grundstellungen oder asanas zur Konzentrationssteigerung und besseren Atmung beigebracht, aber Victoria war diese von ihm jetzt praktizierte Übung nie gelungen. Auch Tante Eustacia hatte es nicht geschafft.
»Ich hatte gestern Abend eigentlich noch einmal herkommen wollen«, fing sie an, aber er schüttelte bereits den Kopf.
»Du musst dich um so vieles kümmern, Kind. Ich weiß sehr wohl, wie schwierig das sein kann.«
Das wusste er in der Tat, denn er war mehr als fünfzig Jahre lang Tante Eustacias Lehrer, Gefährte und – wie Victoria erst vor kurzem erfahren hatte – Liebhaber gewesen.
Victoria legte ihre Hand auf seine glatten, gebräunten Finger und drückte sie. »Wann wird er begraben?«
Kritanu schüttelte den Kopf. »Wir begraben unsere Toten nicht. Sein Körper, der wie ein alter Wagen ausgedient hat, wird verbrannt werden. Seine Asche werde ich ins Konsilium bringen, wie er es sich gewünscht hätte.« Er richtete sich auf, und sie sah, dass er trotz der Trauer, die immer noch in seinem Blick lag, entspannter wirkte. »Aber ich wollte mit dir über die Fortsetzung deines Trainings sprechen. Die letzten paar Monate haben wir nicht viel gemacht, und ich fürchte, du bist langsam und schwach geworden – du greifst wieder auf vorhersehbare Bewegungen zurück.«
Victoria lächelte, obwohl sie aus unterschiedlichen Gründen viel lieber geweint hätte. »Ich habe Vorkehrungen getroffen, um in Tante Eustacias Haus umzuziehen. Das hätte ich eigentlich gleich nach meiner R ückkehr nach London tun sollen. Es war dumm von mir hierzubleiben.«
Kritanu nickte. »Dann werde ich meinen Neffen heute mitnehmen, damit du dir wenigstens darüber keine Gedanken zu machen brauchst. Und ich bin froh, dass du dann wieder bei mir bist. Wir werden deine ankathari -Fähigkeiten verbessern, denn du musst geschickter mit der Klinge werden. Die Mühe zahlt sich aus, wenn du mit Imperialen kämpfen musst.«
Imperialvampire waren die ältesten der Halbdämonen, von denen die meisten vor mehr als einem Jahrtausend erschaffen worden waren. Ihre Augen leuchteten rotviolett, und sie waren sogar noch schneller und stärker als Wächtervampire. Sie hatten Schwerter und konnten durch die Luft gleiten. Manche von ihnen konnten auch ihre Gestalt verändern oder allein nur mit ihrem Blick einem Menschen die Lebenskraft entziehen.
Victoria war bisher nur zweimal gegen Imperiale angetreten und hatte beide Male Hilfe gehabt. Es waren schreckliche, furchteinflößende Geschöpfe.
»Wann werde ich so weit sein, um mit qinggong zu beginnen?«, fragte sie.
Sie hatte gesehen, wie Max anmutig durch die Luft geschwebt war, sich immer wieder nach unten gestürzt hatte und gesprungen war, als hätte er Flügel. Sie war gerade erst Venator geworden, als sie ihn diese Fähigkeit vor zwei Jahren bei einem Kampf gegen einen Imperialen hatte einsetzen sehen. Max’ Kraft und Können hatte dem des Vampirs in nichts nachgestanden; es war fast ein Genuss gewesen, ihnen bei ihrem Kampf Schwert gegen Holzpflock zuzusehen. Ihre Füße hatten immer wieder den Boden gestreift, während sie in hohen Sprüngen durch die Nacht wirbelten und glitten.
Kritanu bedachte sie mit einem väterlichen Lächeln. »Wenn du willst, können wir morgen damit anfangen. Aber ich
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