Das Buch der Vampire 04 - Brennendes Zwielicht
der Pflock in seinem Herzen landen, ob er nun ein Sterblicher war oder nicht. Lady Melly gab mittlerweile nur noch kurze, keuchende Atemzüge von sich, und ihre Finger hatten sich so fest um Victorias Handgelenk gelegt, als würde sie im Todeskampf liegen.
Ehe Victoria sich aus der verworrenen Situation herauswinden konnte, wurde die Tür zum Salon schon wieder geöffnet, und Lettenders langes Gesicht erschien. Alle Köpfe wandten sich ihm zu. »Mylady, wir haben noch einen Gast. Er … äh … möchte mit Ihnen sprechen.«
Victoria verkrampfte sich. Plötzlich war sie furchtbar nervös. Das musste Max sein; er war der Einzige, der in dieser seltsamen Ansammlung von Menschen noch fehlte. »Bitte, führen Sie ihn herein«, sagte sie.
Der Butler trat in den Salon und öffnete die Tür weit, sodass der Besucher hinter ihm hereinkommen konnte. »Mr. Bemis Goodwin. Von den Bow Street R unners.«
Mr. Goodwin war ein großer, dunkelhaariger Mann. Sein Gesicht war genauso streng geschnitten wie das von Max, doch seine Gesichtszüge waren, obwohl nicht minder hochmütig, längst nicht so attraktiv. Kinn und Nase sprangen weit vor, ebenso die Wangenknochen, denen nichts Zartes anhaftete. Die Lippen waren rot und schmal. Ein scharfer Blick lag in seinen dunklen Augen, die ständig hin und her huschten, sodass ihnen vermutlich nichts entging. Sie glitten über die kleine Gruppe, bis sich sein Blick auf Victoria heftete.
»Lady R ockley, ich muss mit Ihnen sprechen.«
* * *
»Lady R ockley, dann waren also Sie diejenige, die die sterblichen Überreste von Miss Forrest gefunden hat«, fragte Mr. Goodwin nun zum dritten Mal.
»Ja, wie ich Ihnen bereits zweimal erklärt habe, Sir, bin ich auf die sterblichen Überreste der unglückseligen Frau gestoßen.«
»Aber es gab noch andere, die vor Ihnen zur Suche aufgebrochen waren. Sie befanden sich sozusagen vor Ihnen.« Seine intelligenten, eng zusammenstehenden Augen fixierten sie. Sie erinnerten sie an die dunklen Augen einer Schlange, die gleich zuschnappen wird. »Woher wussten Sie also, wo Sie suchen mussten, wenn es den anderen doch nicht gelungen war?«
Victoria hatte die anderen im Salon zurückgelassen und war mit Mr. Goodwin ins Arbeitszimmer des Marquis’ gegangen, was ihr anfangs wie eine Flucht erschienen war. Das Auftreten des wieselflink erscheinenden Mannes und seine Fragen ärgerten und beunruhigten sie. »Wollen Sie etwa andeuten, dass ich von irgendwoher wusste, wo Miss Forrests Leichnam zu finden war?«
»Sie schienen ziemlich genau zu wissen, wo Sie suchen mussten.«
»Sie lag unter einem Baum, etwas versteckt hinter einem großen Stein, in der Nähe des Baches. Jeder hätte sie dort finden können.« Victoria lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und zwang sich dazu, die Hände entspannt in den Schoß zu legen. Es war lächerlich, dass sie sich von dem Mann so aus der R uhe bringen ließ. Er tat schließlich nur das, wofür er bezahlt wurde.
Die Bow Street R unners waren die einzigen polizeiähnlichen Ordnungshüter in London, da Victorias Landsleute sich noch immer scheuten, ihre Freiheit aufzugeben, indem sie eine richtige Polizei formell ins Leben riefen. In der Tat war London die einzige Stadt Europas, die keine echte Polizei hatte. Natürlich gab es die Nachtwächter, und jede Gemeinde hatte einen Wachtmeister, aber deren Aufgabe bestand nur darin, über kriminelle Machenschaften Bericht zu erstatten, wenn sie Zeuge davon wurden. In den Aufgabenbereich der R unners fiel dagegen die Untersuchung von schweren Straftaten – wie Mord oder Vergewaltigung –, um die Verbrecher dann vor Gericht zu bringen. Sie konnten auch den Opfern anderer Straftaten wie zum Beispiel Raub und Betrug helfen und ihnen deren Besitztümer zurückholen – nach eigenem Ermessen. Trotzdem war es bedauerlicherweise so, dass der R unner in diesem bestimmten Fall nicht würde helfen können.
Vampirangriffe gehörten nicht zu den vor Gericht anerkannten Straftaten.
»Kann ich Ihnen noch irgendwie sonst behilflich sein, Mr. Goodwin?«, fragte Victoria, um die Unterhaltung zu einem Ende zu führen.
Als hätte er bemerkt, dass sich ihr Auftreten geändert hatte, verzogen sich seine Lippen zu einem Lächeln. »Sie haben das schwer misshandelte und übel zugerichtete Opfer als Erste gefunden und hatten die Geistesgegenwart, um Hilfe zu rufen, Lady R ockley. Sofort. Offensichtlich hatte der Anblick von Blut und zerfetztem Fleisch keine große Auswirkung auf Sie.«
»Es war kein
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