Das Buch der Vampire 05 - Sanfte Finsternis
unterwegs ist
Victoria achtete darauf, mit dem Rücken zum Flur zu stehen, während sie mit Verbena redete. »Es geht ihm nicht gut, überhaupt nicht gut«, erklärte sie ihrer Zofe. »Das war ein sehr schweres Jahr für ihn. Erst Tante Eustacia zu verlieren und dann seinen Neffen... und jetzt...« Sie ließ ihre Stimme immer leiser werden und strich glättend über das tiefrote Kleid, in das ihr Verbena vor wenigen Augenblicken hineingeholfen hatte.
Sie spürte eher die leichtfüßige Gegenwart hinter sich, als dass sie etwas hörte, und sah Verbena mit bedeutungsvollem Blick an.
»Der arme Kritanu«, gab die Zofe schnell zur Antwort. »Und dann noch auf diese Art und Weise seine Hand zu verlieren ... ich weiß nicht. Mona sagt, er würde nicht viel essen, und letzte Nacht habe ich gehört, wie er herumgegangen ist, Mylady. Einfach nur auf und ab gegangen, die ganze Zeit.«
Kritanu, der alte Mann, der Victoria in der fernöstlichen Kampfkunst unterwiesen hatte und mehr als fünfzig Jahre lang Tante Eustacias Liebhaber und Gefährte gewesen war, hatte mehrere schwere Verluste in den letzten Monaten hinnehmen müssen; jüngst den Verlust seiner Hand. Man hatte sie ihm abgetrennt, als er und Sebastian von ein paar Lakaien Liliths gefangen genommen worden waren. Sara Regalado, die Anführerin der Gruppe, hatte auch Sebastian verstümmelt, indem sie ihm den kleinen Finger der linken Hand hatte abschneiden lassen.
Kritanu und Max waren über Jahre enge Freunde gewesen, genau genommen, seit Kritanus Neffe, Briyani, Max' Ausbilder in fernösdicher Kampfkunst geworden war. Briyani war ein paar Wochen vor Kritanus Verletzung von Vampiren brutal ermordet worden.
Victoria schüttelte den Kopf, während sie die makellos sauberen rosafarbenen Handschuhe überstreifte. »Ich mache mir ziemliche Sorgen um ihn«, setzte sie noch einen oben drauf. »Ich weiß nicht, was ich tun soll. Eigentlich hoffe ich einfach...« Wieder wurde ihre Stimme ganz leise, und sie verstummte mitten im Satz, als wollte sie nicht, dass jemand sie hörte.
»Wieder unterwegs zu einer Feier heute Abend?«, fragte Max, als er in das vordere Vestibül trat. »Ach ja, das geschäftige Leben der Witwe des Marquis von Rockley.« Es war nicht zu erkennen, ob er gerade gekommen oder im Gehen begriffen war; er bestand beharrlich darauf, weiterhin im Dienstbotentrakt im hinteren Teil des Hauses zu wohnen, sodass er nur selten den Haupteingang benutzte.
Für seinen gesellschaftlichen Stand war er wie immer äußerst einfach gekleidet. Sein weißes Hemd war zerknittert, und sein Halstuch saß etwas schief. Die dunkle Hose und der Gehrock, den er anhatte, wiesen einen guten Schnitt auf, waren aber eindeutig in letzter Zeit weder geplättet worden noch auf dem neuesten Stand der Mode. Heute Abend hatte er das volle, dunkle Haar zurückgebunden; Victoria bezeichnete diese Frisur im Stillen mittlerweile als den »Piratenstil«. Der Zopf saß tief im Nacken, und die Haare ragten wie steife Borsten aus einem Pinsel. Aufgrund seiner dunklen Haut, der schwarzen Brauen und der kantigen Gesichtszüge hätte ihn wohl niemand als gutaussehend bezeichnet; er war vielmehr außerordentlich beeindruckend. Imposant. Seine dunklen Augen sahen sie nicht direkt an, als hätte er Angst, seinen Blick dann nicht mehr von ihr abwenden zu können.
»Ja, stimmt. Herzogin Winnie - du kennst sie ja«, ergänzte Victoria mit einem leisen Lachen.
Max hatte die Herzogin von Farnham, eine Busenfreundin von Victorias Mutter, kennen gelernt, als diese sich bei einer Reise nach Rom darin versucht hatte, einen Vampir zu pfählen. Bei dem Vampir hatte es sich um den Conte Regalado gehandelt, der gerade eifrig Victorias Mutter umworben hatte. Victoria musste lächeln bei der Erinnerung daran, wie die Herzogin einen Holzpflock geschwungen hatte, der so dick wie ihr Handgelenk gewesen war.
Damals war ihr allerdings ganz und gar nicht nach Lächeln zumute gewesen.
»Die Herzogin hat zu einem Tanzabend geladen, und da will ich natürlich nicht fehlen. Vor allem, nachdem der neue Marquis von Rockley so plötzlich verschwunden ist. Ganz London schwirrt vor Gerüchten über diesen Vorfall«, meinte sie.
Nach seiner Ankunft aus Amerika war der Erbe von Victorias verschiedenem Gatten das Opfer von Vampiren geworden. Seine Stelle im ton und seinen Titel hatte ein untoter Hochstapler übernommen, der später Bekanntschaft mit dem spitzen Ende von Victorias Pflock gemacht hatte. Weil die Leiche nicht
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