Das Buch der Vampire 05 - Sanfte Finsternis
Tanzabend bat, wurden dafür natürlich weniger Einladungen verschickt als zu einem Ball, wodurch sie umso begehrter waren.
Und so musste sich Victorias schlanke, mitternachtsblaue Kutsche bei ihrer Ankunft in einer langen Schlange von anderen Kutschen einreihen, die von einem genauso steten Strom von Kutschen passiert wurden, welche an dem Stadthaus vorbeifuhren, vielleicht um einen Blick auf diejenigen zu erhaschen, die diesmal das Glück gehabt hatten, eine Einladung zu ergattern. Die stickige Luft und die sommerliche Hitze in der geschlossenen Kutsche ließen sie gelangweilt und müde werden, deshalb zog sie eines der kleinen Fenster auf.
Es machte ihr nichts aus, keinen Begleiter zu haben, denn das Verhältnis zur Herzogin war eng — was auch den liebevollen und zwanglosen Spitznamen von Herzogin Winnie erklärte -, als wäre sie deren Nichte. Außerdem würde auch Victorias Mutter, Lady Melly, anwesend sein... wahrscheinlich in Begleitung ihres langjährigen Kavaliers, Lord Jellington.
Lady Melly, Herzogin Winnie und deren beider Busenfreundin, Lady Petronilla, waren schier unzertrennlich. Ständig steckten sie die Köpfe zusammen, tauschten Klatsch und Tratsch aus und planten Hochzeiten. Die drei waren durch das Verschwinden des neuen Lord Rockley wahrscheinlich mehr als alle anderen in London aus der Fassung gebracht. Immerhin hatten sie versucht, Ehestifter bei ihm und Victoria zu spielen, weil sie hofften, dass Victoria dadurch von der Witwe des Marquis von Rockley wieder zur Marquise von Rockley aufsteigen würde.
Sebastian hatte zwar angeboten, sie heute Abend zu begleiten, aber Victoria hatte es für besser gehalten abzulehnen. Denn obwohl er wusste, wie ihre Gefühle für Max aussahen, spiegelte sich das in seinen Worten nicht wider... »Ich werde mich in dieser Sache nicht wie ein Gentleman verhalten, Victoria. Er will dich nicht - er will überhaupt niemanden -, aber ich will.« Und dann hatte er sie in seine Arme gezogen, um sie auf diese unnachahmlich leidenschaftliche Art und Weise zu küssen, bei der ihre Beine weich wurden und ihr Atem unregelmäßig.
Sogar jetzt stieg ihr allein bei der Erinnerung daran Wärme in die Wangen, und sie fühlte sich noch unwohler in der stickigen Kutsche. Als Victoria endlich aussteigen konnte, hatte sich in der schwülen Luft ein feiner Schweißfilm auf ihrer Oberlippe gebildet. Sie tupfte ihn mit einem Taschentuch weg und schlüpfte dann an dem Butler vorbei durch den Seiteneingang von Farnham House.
Ihre Ankunft musste nicht angekündigt werden; sie wollte keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich lenken. Victoria besuchte den Tanzabend, weil sie Herzogin Winnie nicht enttäuschen wollte. Sie würde sich kurz sehen lassen und dann gleich wieder gehen.
Trotz der drückenden Hitze des Sommerabends und der vielen Leute, die der Einladung gefolgt waren, herrschten im Ballsaal recht angenehme Temperaturen. Der Grund hierfür wurde sofort ersichtlich: Die sechs nebeneinanderliegenden französischen Fenster, die auf den Garten blickten, waren alle geöffnet, und im ganzen Raum war eine ganze Heerschar von Dienstboten mit großen Palmwedelfächern verteilt, die den Gästen unermüdlich frische Luft zufächelten.
»Endlich! Ich dachte schon, du würdest gar nicht mehr kommen, Victoria«, sagte Lady Melly und winkte sie auch gleich mit gekrümmtem Finger zu sich heran. »Der Graf von Tretherington ist heute Abend hier, und es heißt, er wäre auf der Suche nach einer Frau.«
»Tretherington?«, wiederholte Victoria und sah ihre Mutter mit hochgezogener Augenbraue an. »Mutter, ich bitte dich, ich lasse mir doch nicht den Hof von einem Mann machen, der alt genug ist, um mein Großvater zu sein.«
»Aber, Victoria«, fuhr Melly fort, »Tretherington House!
Das ist sogar größer als Westminster, nach allem, was man so hört...«
»Wenn du von Tretherington House so angetan bist, kannst du doch selber ein Auge auf ihn werfen, oder?«, fragte Victoria. »Dann würdest du Lady T. werden. Das kannst du genauso gut, Mama, denn ich glaube nicht, dass Jellington je deine Erwartungen erfüllen wird.« Selten benutzte sie diese formlose Anrede bei ihrer Mutter, aber irgendetwas brachte sie dazu, sie heute einmal genauer anzuschauen. Vielleicht rührte Lady Mellys beständiger Wunsch, Victoria wieder verheiratet zu sehen, daher, dass sie sich selbst als Witwe so einsam fühlte.
Ihre Mutter war eine für ihr Alter gut aussehende Frau. Sie hatte das gleiche dunkle, lockige
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