Das Buch der Vampire 05 - Sanfte Finsternis
die übrige Londoner Gesellschaft noch nicht einmal, dass es die Untoten jenseits der lebhaften Fantasie eines John Polidori überhaupt gab. Seine Erzählung Der Vampyr hatte London vor ein paar Jahren im Sturm erobert, und daraufhin war der Aberglaube, dass es Vampire gäbe, in Mode gekommen.
Die meisten Londoner wussten nicht, dass Vampire keineswegs die geheimnisvollen, eleganten Geschöpfe waren, wie Polidori sie mit seinem Lord Ruthven porträtiert hatte, sondern blutrünstige Dämonen, die erbarmungslos über Menschen herfielen. Victoria hatte die Opfer von Vampirangriffen gesehen, und das war kein schöner Anblick gewesen.
»Was für ein schönes Schmuckstück«, meinte sie zu der Herzogin.
Winnie legte die Hand über das Kreuz. »Ich gehe kein Risiko ein«, erklärte sie mit leiser Stimme, während ihr Dreifachkinn bebte. Sie ließ den Blick über ihre Gästeschar schweifen und rückte dichter an Victoria heran, wobei sie einen Hauch von... Knoblauch verströmte. Angereichert mit dem Duft nach Hyazinthen. »Es geht das Gerücht um, Rockley sei von einem Vampir geholt worden. Wenn der Marquis von Rockley tatsächlich in seinem eigenen Haus von einem dieser Geschöpfe angegriffen worden ist, dann ist man nirgendwo sicher.«
Victoria sah sie an. »Woher um Himmels willen hast du das denn?« Die Venatoren gaben sich zum Schutz der Menschen die größte Mühe, die Existenz der Untoten geheim zu halten. Und wenn einer doch etwas sah oder hörte, wovon er nichts erfahren sollte, wurde Tante Eustacias Goldmedaillon mit den besonderen Eigenschaften benutzt, um die belastenden Erinnerungen durch Hypnose zu löschen.
»Na, von Nillys neuem Freund«, erwiderte die Herzogin. »Er hat es uns ganz im Vertrauen erzählt.«
»Lady Nillys Freund?«
»Ach, da hab ich gar nicht dran gedacht! Du kennst ihn ja schon, Victoria, und da sind die beiden gerade. Nilly!« Die Herzogin winkte, und die Haut unter ihrem Arm schwabbelte fröhlich, während die Armreifen an ihrem Handgelenk klingelten.
Victoria drehte sich zu der schlanken, flachbusigen Lady Nilly um, die bleich wie ein Geist mit ihrem neuen Freund auf sie zukam.
Er hatte blonde Haare, ein rundes Gesicht und ein Grübchen im Kinn. Er war seinem Stand angemessen gekleidet und wirkte auf eine jungenhafte Art elegant, obwohl Victoria Grund zu der Annahme hatte, dass er nur ein paar Jahre älter war als sie selbst.
»Guten Abend, Victoria, meine Liebe«, trällerte Nilly. Sie umklammerte den Arm des Mannes an ihrer Seite, als hätte sie Angst, er würde sich gleich aus dem Staub machen.
Aber die Gefahr bestand nicht, denn der Mann verbeugte sich tief vor Victoria, nahm ihre Hand und zog sie an seine Lippen. »Wie reizend, Sie wiederzusehen.«
»Ich weiß überhaupt nicht, wie ich habe vergessen können, dass ihr beiden euch ja schon kennt«, erklärte die Herzogin in einem übertrieben überraschten Tonfall. Victoria bemerkte, wie sie mit den Augenbrauen zuckte, als sie Nilly einen verschwörerischen Blick zuwarf.
»Das tun wir in der Tat«, erwiderte Victoria, um sich dann zu dem Herrn umzudrehen. »George Starcasset. Mit Ihnen hatte ich wirklich nicht gerechnet.« Ihre Stimme klang eisig.
Nein, das hatte sie tatsächlich nicht. Das letzte Mal, als sie George gesehen hatte, führte er gerade zwei Geiseln, Max und einen blutüberströmten, einhändigen Kritanu, aus dem Raum, in dem Victoria mehrere Vampire niedergemetzelt hatte. George war Mitglied der Tutela, einer Geheimgesellschaft Sterblicher, die die Untoten schützten und ihnen dienten.
»Das kann ich gut nachvollziehen«, hatte er den Anstand zu antworten. Und als sie ihn ansah, bemerkte sie in seiner Miene eine düstere Ernsthaftigkeit, die ganz im Gegensatz zu seinem sonstigen angeberischen Getue stand. »Aber ich musste Sie sehen. Tanzen Sie mit mir?«
Victoria hätte lieber mit Beauregard - dem mächtigen Vampir, der sie in eine Untote hatte verwandeln wollen — eine Runde gedreht als mit George. Aber Lady Nilly und Herzogin Winnie sahen aus, als ob sie gleich vor Freude platzen würden, weil ein gutaussehender, wenn auch jungenhaft wirkender junger Mann Victoria eindeutig den Hof machte.
Ihr fiel keine elegante Lösung ein, wie sie sich aus der Situation hätte herauswinden können, und so nahm sie den Arm, den er ihr reichte. Und zumindest würde sie ihm so sagen können, was sie davon hielt, dass er Gerüchte über Untote bei den ahnungslosen Damen des ton streute. Das wirklich Letzte, was sie
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