Das Buch der Vampire 05 - Sanfte Finsternis
Sterbliche gegen Untote kämpften —, dass sie mit einer Situation konfrontiert wurde, die bei ihr Erheiterung hervorrief.
Doch dann wurden ihre Augen ganz schmal. »Sie tun gut daran, George, ihr keine Menschen zu bringen. Denn sonst werde ich Sie höchstpersönlich töten.« Das war eine leere Drohung; natürlich würde sie George nicht umbringen. Er war ein Mensch, wenn auch ein unerträgliches Mitglied der Rasse, die sie zu schützen hatte, egal, was es kostete. »Nein, vielleicht fessle ich Sie einfach und lasse sie dann auf Sie los.«
Er schluckte, und ihm gelang ein gequält wirkendes Lächeln. »Dafür ist es zu spät, Victoria.« Er ließ ihre Hand los, um den hohen, gestärkten Kragen vom Hals zu ziehen. Darunter kamen vier hochrote Bissspuren zum Vorschein. Sie waren so frisch, dass sein Kragen von innen mit Blut beschmiert war.
»Davon abgesehen habe ich ihr nur zwei Menschen zugeführt...« Er musste wohl gespürt haben, wie Victoria sich unter seinen Händen anspannte, denn er fuhr schnell fort: »Sie waren willig, das schwöre ich. Die wollten wissen, wie das ist.« Er beugte sich nach vorn, und ein boshaftes Grinsen verzerrte plötzlich seine Lippen. »Sogar Ihre liebe Lady Fenworth wollte es, Victoria.«
»Lady Nilly?« Victoria zweifelte keine Sekunde lang an seinen Worten. Seit Polidoris Buch war die zwitschernde, ältliche Dame fasziniert von Vampiren - oder zumindest von den romantisierten literarischen Geschöpfen.
George nutzte den Moment, um weiter in sie zu dringen. »Wenn Sie mir nicht helfen, nehme ich sie zu einem Besuch bei Maybelle mit.« Er schien zu glauben, dass seine Ankündigung die perfekte Gelegenheit wäre, Victorias Ausschnitt genauer in Augenschein zu nehmen.
»Maybelle?« Victoria geriet aus dem Takt und wäre George dabei fast auf den Fuß getreten. Das war ihr seit ihrem Debüt nicht mehr passiert. Damals hatte sie allerdings all ihre Venatorenkraft in den kleinen, spitzen Absatz gelegt, als sie dem widerlichen Lord Beetleton auf die Zehen getreten war. In diesem Fall war das Bedürfnis nicht ganz so groß, obwohl die Aussicht ebenfalls verlockend war. George linste ihr immer noch in den Ausschnitt.
»Sie sprechen nicht etwa von Miss Maybelle Felicity-Underwood, von der es heißt, sie sei mit einem Mann, mit dem sie um zehn Ecken verwandt ist, nach Gretna Green durchgebrannt?«, fragte sie und bohrte ihm einen spitzen Fingernagel hinten in den Hals.
»Genau die«, erwiderte George. Er besaß den Anstand, ihr
wieder ins Gesicht zu sehen, und während die Musik verklang, führte er sie an den Rand der Tanzfläche zurück. »In letzter Zeit wird viel über Leute geredet, die weggelaufen sind, nicht wahr? Es erscheint mir besser, als das Gerücht zu verbreiten, sie seien auf See verschollen, oder was meinen Sie, Lady Rockley?« Es war das erste Mal, dass er sie mit ihrem Titel ansprach, und das mit voller Absicht.
Victoria behielt eine ausdruckslose Miene bei und ließ sich von George ins große Foyer des Hauses führen. Seine Anspielung auf die Geschichte, die Victoria verbreitet hatte, um den Tod und das Verschwinden ihres Gatten Phillip zu erklären - dass er auf einem Schiff gestorben wäre -, erinnerte sie an den niederträchtigen Bemis Goodwin. Goodwin war ein Bow Street Runner und der Bruder eines Vampirs gewesen, den sie im ersten Jahr, nachdem sie Venator geworden war, gepfählt hatte. Goodwin war fest entschlossen gewesen, sie wegen Mordes der Obrigkeit zu überstellen, und beinahe wäre es ihm gelungen, sie nach Newgate zu bringen.
Das Problem im Falle Goodwins - und in jedem anderen Fall, bei dem es um den Tod eines Vampirs ging - war, dass es keine Leiche gab. Nachdem man einen Untoten gepfählt hatte, blieb nur ein Häufchen stinkender Asche übrig. Deshalb war es notwendig, sich eine plausible Geschichte auszudenken, die das plötzliche Verschwinden von Menschen wie Phillip und dann dem neuen Marquis von Rockley (der ein Hochstapler gewesen war), von Gwendolyn Starcasset, Georges Schwester, und jetzt
offensichtlich auch Miss Maybelle Felicity-Underwood erklärte.
»Sie wollen also, dass ich Ihnen helfe, Miss Maybelle loszuwerden, die zur Untoten geworden ist und die mit irgendjemandes Hilfe den guten Namen eines mit ihr verwandten Mannes
in den Dreck gezogen hat. Sagen Sie mal, George, wie konnte das passieren?«
Sie blieb am Rand des Ballsaales stehen und sah ins Foyer. Noch immer trafen neue Gäste ein, obwohl schon gut drei Dutzend da waren.
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