Das Buch der Verdammnis (German Edition)
Mitstreiter hier.“
Das war das Stichwort. In der folgenden Stunde waren die Teilnehmer damit beschäftigt, ihre abstrusen Ideen zum Geschichtenkonstrukt von November beizusteuern.
Polonski hatte die Idee, dass der Held durch seine Eifersucht in den Wahn getrieben wird und seiner Geliebten mit einer Kettensäge den Kopf abschneidet.
„ Sie steht da, ohne Kopf und auf einmal kommen lauter Würmer aus ihrem Hals“, führte er aus. „Und man erkennt, dass sie die Königin einer außerirdischen Würmerkolonie war und dann beginnt der Krieg der außerirdischen Würmer gegen die Menschen.“
Ich hatte auf einmal Kopfschmerzen. Ich blickte immer wieder unauffällig auf die Uhr und war froh, als ich endlich Pause machen konnte.
In der Pause streifte ich ruhelos durch das Seminargebäude. Ich wusste, dass Meike auch heute zur selben Zeit in ihrem Kurs Pause machte, aber ich wollte etwas allein sein. Ich setzte mich auf eine Bank im Innenhof des Seminargebäudes. Ich musste endlich zur Ruhe kommen.
Vor mir war ein großer Kugelbrunnen. Daneben waren Blumenbeete und ein Baum. Der Innenhof hatte etwas Idyllisches, eine Oase inmitten der Betriebsamkeit des Seminargebäudes. Doch mir war, als würde hinter diesem Bild der Ruhe eine unsichtbare Bedrohung lauern.
„ Hallo.“ Ich hatte Meike nicht kommen hören. Sie stand neben mir und schaute mich an.
Ich rutschte ein wenig zur Seite.
„Setz dich doch“, sagte ich.
Sie nahm neben mir Platz.
„Ich habe gedacht, du kommst mal vorbei heute.“
„ Ich wollte mal allein sein.“
Es klang abweisender, als ich gewollt hatte. Ich sah sie an.
„Tut mir Leid“, sagte ich. „Aber ich bin heute einfach nicht so drauf.“
Sie nickte.
„Verstehe. Ich hab das Interview auf der Website gelesen.“
Ich winkte ab. „Das Interview ist es gar nicht.“
„Warum hast du das eigentlich so plötzlich abgebrochen?“, fragte sie.
„ Weil ich es einfach nicht mehr hören kann. Diese dauernden Fragen nach meinem zweiten Roman. Wann er denn endlich erscheint und wie weit ich damit bin. Und dann diese Gerüchte, dass ich nur deshalb nicht mehr schreibe, weil damals Baretta den Roman so verrissen hat. Gibt es keine anderen Themen bei so einem Interview?“
Ich war laut geworden. Einen Moment sagte niemand etwas. Ich versuchte, mich zu beruhigen, hörte auf das gleichförmige Plätschern des Brunnens.
„Aber es hat dich doch damals sehr verletzt, das, was er geschrieben hat.“
Ich atmete tief durch.
„Es war, als ob er mir ein Messer in den Rücken stoßen würde. Er hatte ja in manchem sogar recht, aber ich war einfach nur wütend, ich war nur furchtbar wütend.“
„ Dann ist das also auch wahr, was man sich erzählt.“
Ich sah sie fragend an.
„Dass du dich rächen wolltest. Und dass du deswegen diese Figur in der Hank-Lester-Reihe erfunden hast, den Ghostkiller.“
Ich sah sie immer noch an. „Ja“, sagte ich. „Das ist wahr.“
Es war das erste Mal, dass ich es gegenüber jemandem zugab. Dass ich sagte, was alle schon damals geahnt hatten. Dass die Figur des Ghostkillers eine Karikatur von Baretta sein sollte, dass ich mich mit dieser Figur über ihn lustig machen wollte, dass ich Baretta entlarven wollte, nein, dass ich ihn treffen wollte damit. Den Ghostkiller hatte ich als einen erbärmlichen, untalentierten Autor gezeichnet. Getrieben von seiner Erfolglosigkeit entwickelte er die grausige Obsession, dass nur Verbrechen und Morde die Gefühle in ihm wecken könnten, die ihm helfen würden, wahrhaftige, große Sätze zu Papier zu bringen. Doch die Worte, die der Ghostkiller nach seinen Morden schrieb, blieben blass und farblos und trieben ihn nur zu neuen, entsetzlicheren Gräueltaten.
„ Ich wünsche mir so, dass ich das ungeschehen machen könnte“, sagte ich. „Ich war damals nur blind vor Wut.“
Die Figur des Ghostkillers war meine literarische Rache an Baretta gewesen. Doch ich hatte sehr schnell gemerkt, dass ich mit der Erfindung dieser Figur eine Grenze überschritten hatte und hatte ihn nach drei Folgen sterben lassen. Kurz nach dem Tod meiner erfundenen Figur war plötzlich auch Nikolai Baretta verschwunden. Eine mysteriöse Parallelität der Ereignisse. Ich dachte an November und auf einmal kam mir der Gedanke, dass der Ghostkiller nie ganz gestorben war. Zwischen den Zeilen hatte er weiter gelebt, hatte er weiter gemordet in der Hoffnung, dass Schuld und Entsetzen der Nährboden für große Literatur sein konnten.
Der Ghostkiller
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