Das Buch der verlorenen Dinge
und dann wird nie jemand erfahren, was aus mir geworden ist.«
Sie begann zu weinen, aber es waren nur trockene Schluchzer, denn Tote haben keine Tränen und kein Blut.
David legte seinen kleinen Finger auf den Behälter, genau dort, wo an der Innenseite die Hand des Mädchens lag, sodass sie nur das Glas trennte.
»Weiß irgendjemand, dass du hier bist?«, fragte David.
Sie nickte. »Mein Bruder kommt ab und zu, aber er ist jetzt sehr alt. Nun ja, ich nenne ihn meinen Bruder, aber eigentlich ist er es nie gewesen. Ich habe es mir nur gewünscht. Er sagt, es tut ihm leid. Ich glaube ihm. Ich glaube, er bereut es wirklich.«
Auf einmal ergab für David alles einen schrecklichen Sinn.
»Jonathan hat dich hierher gebracht und dich dem Krummen Mann gegeben«, sagte er. »Das war der Handel, auf den er sich eingelassen hat.«
Benommen sank er auf das harte, kalte Bett.
»Er war eifersüchtig auf dich«, fuhr er mit leiserer Stimme fort, fast mehr an sich selbst gerichtet als an das Mädchen. »Und der Krumme Mann hat ihm angeboten, ihn von dir zu befreien. Jonathan wurde König, und seine Vorgängerin, die alte Königin, durfte sterben. Vielleicht hatte sie viele Jahre zuvor einen ganz ähnlichen Handel mit dem Krummen Mann geschlossen, und der Junge in dem Glasbehälter, den du bei deiner Ankunft gesehen hast, war ihr Bruder oder ihr Vetter oder irgendein Junge aus der Nachbarschaft, über den sie sich so geärgert hat, dass sie davon träumte, ihn loszuwerden.«
Und der Krumme Mann hatte ihre Träume gehört, denn das war das Land, in dem er sich bewegte. Sein Reich war die Fantasie, die Welt, in der Geschichten begannen. Die Geschichten suchten stets nach einer Möglichkeit, durch Bücher oder Erzählungen zum Leben erweckt zu werden. So wechselten sie von ihrer Welt in unsere. Doch mit ihnen kam der Krumme Mann, der fortwährend zwischen seiner Welt und unserer hin und her streifte, immer auf der Suche nach neuen Geschichten, die er erschaffen konnte, nach Kindern, die schlimme Dinge träumten, die eifersüchtig und wütend und hochmütig waren. Und er machte sie zu Königen und Königinnen und verlieh ihnen eine scheinbare Macht, obwohl die wirkliche Macht stets in seiner Hand lag. Im Gegenzug verrieten sie das Objekt ihrer Eifersucht an ihn, und er nahm sie mit in seine finstere Höhle unter der Burg…
David stand auf und ging wieder zu dem Mädchen in dem Glasbehälter.
»Ich weiß, es ist schlimm für dich, aber du musst mir sagen, was passiert ist, als du hierherkamst. Es ist wirklich wichtig. Bitte versuch es.«
Anna verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Nein«, flüsterte sie. »Es tut zu weh. Ich will nicht daran denken.«
»Du musst«, sagte David, und in seiner Stimme lag eine neue Kraft. Sie klang tiefer und ließ für einen kurzen Moment den Mann erahnen, der er einst sein würde. »Wenn es nicht wieder passieren soll, musst du mir sagen, was er getan hat.«
Anna zitterte. Ihre Lippen waren zu einer papierdünnen Linie gepresst, und sie hatte die Hände so fest zusammengeballt, dass die Knochen fast durch die Haut brachen. Schließlich entrang sich ihr ein Stöhnen voll Kummer und Zorn und uraltem schmerz, und die Worte strömten aus ihr heraus.
»Wir kamen durch den Senkgarten«, begann sie. »Jonathan war immer so gemein zu mir. Wenn er überhaupt mit mir sprach, dann um mich zu ärgern. Er zwickte mich und zog mich an den Haaren. Er ging mit mir in den Wald und versteckte sich dann, um mir Angst einzujagen. Erst wenn ich anfing zu weinen, kam er zurück, weil er nicht wollte, dass seine Eltern mich hörten. Er drohte mir, falls ich ihnen davon erzählte, würde er mich einem Fremden mitgeben. Er sagte, sie würden mir ohnehin nicht glauben, schließlich wäre er ihr richtiges Kind und ich nicht. Sie hätten mich bloß aus Mitleid mitgenommen, und falls ich verschwände, würden sie nicht lange traurig sein.
Aber manchmal war er auch ganz lieb zu mir, als hätte er vergessen, dass er mich eigentlich hasste, als käme der wahre Jonathan zum Vorschein. Vielleicht war das der Grund, warum ich in der Nacht mit ihm in den Garten ging, denn an dem Tag war er sehr nett zu mir gewesen. Er hatte mir von seinem Taschengeld Süßigkeiten gekauft und seinen Kuchen mit mir geteilt, nachdem mir meiner auf den Boden gefallen war. Mitten in der Nacht weckte er mich und sagte, er müsse mir etwas zeigen, etwas ganz Besonderes und Geheimes. Alle anderen schliefen, und so schlichen wir hinunter in
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