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Das Buch der verlorenen Dinge

Das Buch der verlorenen Dinge

Titel: Das Buch der verlorenen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Connolly
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den Senkgarten, Hand in Hand. Er zeigte mir einen Hohlraum in der Mauer. Ich hatte Angst. Ich wollte nicht hinein. Aber Jonathan sagte, dahinter läge ein fremdes Land, ein wunderschönes Land. Er ging vor, und ich folgte ihm. Zuerst konnte ich gar nichts sehen, überall nur Dunkelheit und Spinnen. Dann sah ich Bäume und Blumen, und es duftete nach Apfelblüten und Kiefern. Jonathan stand in einer Lichtung, drehte sich lachend um sich selbst und rief, ich sollte ihm folgen. Also tat ich es.«
    Sie schwieg einen Moment. David wartete, bis sie fortfuhr.
    »Da war noch jemand: der Krumme Mann. Er saß auf einem Felsen. Als er mich sah, leckte er sich über die Lippen. Dann wandte er sich zu Jonathan.
    ›Sag es mir‹, forderte er ihn auf.
    ›Sie heißt Anna‹, sagte Jonathan.
    ›Anna‹, sagte der Krumme Mann, als probierte er meinen Namen aus, um zu sehen, ob er ihm schmeckte. ›Willkommen, Anna.‹
    Dann sprang er vom Felsen, legte die Arme um mich und fing an sich zu drehen, wie Jonathan es getan hatte, nur viel schneller, sodass sich ein Loch im Boden auftat, durch das er sich und mich nach unten zog, durch Erde und Wurzeln, an Würmern und Käfern vorbei, in einen der vielen Tunnel, die unter dieser Welt entlanglaufen. Er trug mich Meilen um Meilen mit sich, obwohl ich weinte und schrie, bis wir schließlich hier ankamen. Und dann – «
    Sie brach ab.
    »Und dann?«, hakte David nach.
    »Dann hat er mein Herz gegessen«, flüsterte sie.
    David spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Ihm war so übel, dass er fürchtete, ohnmächtig zu werden.
    »Er grub seine Hand in mich hinein, riss mir mit seinen Nägeln die Haut auf, zog es heraus und aß es vor meinen Augen«, sagte sie. »Es tat furchtbar weh. Der Schmerz war so schrecklich, dass ich meinen Körper verließ, um ihn nicht mehr spüren zu müssen.
    Ich konnte mich selbst sehen, wie ich sterbend auf dem Boden lag. Ich begann zu schweben, und ich sah Licht und hörte Stimmen. Dann schloss sich Glas um mich, ich wurde in diesen Behälter gesteckt und in das Regal gestellt, und da bin ich seither. Als ich Jonathan das nächste Mal sah, trug er eine Krone auf dem Kopf und nannte sich König, aber er wirkte nicht glücklich, sondern elend und verängstigt, und so ist es die ganze Zeit geblieben. Und ich, ich schlafe nie, denn ich bin nie müde. Ich esse nie, denn ich bin nie hungrig. Und ich trinke nie, denn ich bin nie durstig. Ich hocke einfach hier, ohne zu wissen, wie viele Tage oder Jahre vergangen sind. Nur wenn Jonathan kommt, sehe ich die Spuren, die die Zeit auf seinem Gesicht hinterlassen hat. Meistens allerdings kommt der Krumme Mann. Auch er sieht jetzt älter aus. Er ist krank. Je mehr ich dahinschwinde, desto schwächer wird auch er. Ich höre, wie er im Schlaf redet. Er sucht nach Ersatz, nach jemandem, der Jonathans Stelle einnimmt, und nach jemandem, der meine einnimmt.«
    David blickte erneut auf das Stundenglas im Raum nebenan, dessen obere Hälfte nahezu leer war. Zählte es die Tage, Stunden, Minuten, bis das Leben des Krummen Mannes zu Ende war? Wenn es ihm gelang, ein weiteres Kind zu entführen, würde das Stundenglas dann umgedreht, sodass seine Lebenszeit von neuem begann? Auf dem Regal standen viele Glasbehälter, die meisten davon mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Hatte jedes davon irgendwann den Geist eines verlorenen Kindes enthalten?
    Wer sich auf den Handel mit dem Krummen Mann einließ, indem er den Namen des Kindes nannte, war auf ewig verdammt. Er wurde ein Herrscher ohne Macht, stets verfolgt von dem Betrug an jemandem, der kleiner und schwächer war als er selbst, einem Bruder, einer Schwester, einem Freund, den er hätte beschützen sollen, der ihm vertraute, der zu ihm aufsah und der später, wenn aus den Kindern Erwachsene wurden, seinerseits für ihn da gewesen wäre. Und wenn der Handel erst einmal geschlossen war, gab es kein Zurück mehr, denn wie könnte jemand mit dem Wissen um diese schreckliche Tat in sein altes Leben zurückkehren?
    »Du kommst mit«, sagte David. »Ich lasse dich keine Minute länger hier.«
    Er nahm den Glasbehälter aus dem Regal. Er war mit einem Korken verschlossen, doch sosehr sich David auch abmühte, er bekam ihn nicht heraus. Vor lauter Anstrengung lief er rot an, aber es half alles nichts. Suchend blickte er sich um, bis er auf dem Boden einen alten Sack entdeckte.
    »Ich packe dich da hinein«, sagte er. »Nur für den Fall, dass uns jemand sieht.«
    »Schon gut«, sagte

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