Das Buch der verlorenen Dinge
Anna. »Ich habe keine Angst.«
David schob den Glasbehälter vorsichtig hinein und legte sich den Sack über die Schulter. Gerade als er gehen wollte, blieb sein Blick an etwas hängen. In einer Ecke lagen sein Schlafanzug, der Morgenmantel und der einzelne Hausschuh, die Sachen, die der Förster weggeworfen hatte, als sie zur Burg des Königs aufgebrochen waren. Das alles schien ihm schon sehr lange her zu sein, aber sie waren Andenken an das Leben, das er zurückgelassen hatte, und ihm gefiel die Vorstellung nicht, dass sie hier unten im Versteck des Krummen Mannes waren. Er hob sie auf, ging zur Tür und lauschte aufmerksam. Kein Geräusch war zu hören. David atmete tief durch, um sich zu beruhigen, dann lief er los.
29
Vom verborgenen Reich des
Krummen Mannes und den Schätzen,
die er dort aufbewahrte
Das Versteck des Krummen Mannes war viel größer, als David ahnen konnte. Es erstreckte sich bis tief unter die Burg, und einige der Räume darin enthielten noch viel schaurigere Dinge als eine Sammlung rostiger Folterwerkzeuge oder ein Glas mit dem Geist eines toten Mädchens. Dies war das Zentrum der Welt des Krummen Mannes, der Ort, an dem alle Dinge geboren wurden und alle Dinge starben. Er war da, als die ersten Menschen auf die Welt kamen, wurde gemeinsam mit ihnen ins Sein geschleudert. In gewisser Weise gaben sie ihm Leben und ein Ziel, und im Gegenzug gab er ihnen die Geschichten, denn der Krumme Mann besaß einen unerschöpflichen Vorrat davon. Er hatte sogar eine eigene Geschichte, obwohl er einige entscheidende Dinge darin verändert hatte, bevor er sie in die Welt hinausließ. In seiner Geschichte ging es darum, dass man seinen Namen erraten musste, aber das war nur ein kleiner Scherz von ihm. In Wirklichkeit hatte der Krumme Mann keinen Namen. Es war ihm gleich, wie andere ihn nannten; er war ein so altes Wesen, dass die Namen, die die Menschen ihm gaben, für ihn keine Bedeutung hatten: Trickser, der Krumme Mann, Rumpel-Verflixt, wie war der Name noch gleich? Ach, nicht so wichtig…
Nur die Namen der Kinder bedeuteten ihm etwas, denn in der Geschichte über ihn selbst, die der Krumme Mann der Welt gegeben hatte, war ein Körnchen Wahrheit: Namen besaßen eine Macht, wenn sie auf die richtige Weise eingesetzt wurden, und der Krumme Mann hatte gelernt, sie sehr geschickt einzusetzen. Ein riesiger Raum seines Verstecks zeugte davon. Er war bis zur Decke mit kleinen Schädeln gefüllt, und jeder einzelne davon trug den Namen eines verlorenen Kindes, denn der Krumme Mann hatte zahllose Geschäfte um das Leben von Kindern abgeschlossen. Er hatte sich das Gesicht und die Stimme jedes einzelnen gemerkt, und manchmal, wenn er zwischen ihren Überresten stand, beschwor er die Erinnerung an sie herauf, und der Raum füllte sich mit ihren Schatten, ein Chor von verlorenen Jungen und Mädchen, die um ihre Mamas und Papas weinten, eine Ansammlung von Vergessenen und Verratenen.
Der Krumme Mann besaß Unmengen von Schätzen, Stücke von Geschichten, die bereits erzählt waren oder noch erzählt werden sollten. In einer langen Gruft lagerten etliche dickwandige Glaskästen, und in jedem davon schwamm ein Leichnam in gelblicher Flüssigkeit, damit er nicht verweste. Komm her und schau. Komm ganz nah heran, so nah, dass dein Atem sich als Nebel auf dem Glas niederschlägt, und schau in die trüben Augen des dicken, kahlköpfigen Mannes, der darin liegt. Es sieht aus, als würde er atmen, obwohl er seit langer, langer Zeit nicht mehr ein- oder ausgeatmet hat. Siehst du, wie aufgeplatzt und verbrannt seine Haut ist? Siehst du, wie aufgedunsen sein Mund und seine Kehle, sein Bauch und seine Lunge sind? Willst du seine Geschichte hören? Es ist eine der Lieblingsgeschichten des Krummen Mannes. Eine böse, hinterhältige Geschichte…
Der Mann hieß Manius, und er war unersättlich. Er besaß so viel Land, dass ein Vogel von seinem ersten Feld aufsteigen und einen Tag und eine Nacht lang fliegen konnte, ohne das Ende von Manius’ Besitz zu erreichen. Jedem, der auf seinen Feldern arbeitete und in seinem Dorf wohnte, verlangte er hohe Steuern ab. Schon wer nur einen Fuß auf sein Land setzte, musste dafür zahlen, und so wurde Manius sehr reich, aber er hatte nie genug und suchte stets nach neuen Möglichkeiten, seinen Reichtum zu vermehren. Wenn er einer Biene dafür hätte Geld abknöpfen können, dass sie Pollen von einer Blume nahm, oder einen Baum dafür, dass er Wurzeln in die Erde schlug,
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