Das Buch der verlorenen Dinge
zischte und brodelte.
»Es lässt sich nicht beschleunigen«, sagte der Krumme Mann. »Ein paar Stunden mehr werden dich nicht umbringen.«
»Nichts wird mich umbringen, wie es scheint«, sagte der König. »Du hast mir versprochen, dass es ein Ende hat. Ich muss mich ausruhen, schlafen. Ich will in meiner Gruft liegen und zu Staub zerfallen. Du hast mir versprochen, dass ich endlich sterben darf.«
»Er glaubt, dass das Buch ihm helfen wird«, sagte der Krumme Mann. »Wenn er herausfindet, dass es wertlos ist, wird er vernünftig sein, und dann bekommen wir beide von ihm das, was wir wollen.«
Der König veränderte seine Haltung, und David sah, dass er ein Buch auf dem Schoß hatte. Es war in braunes Leder gebunden und sah sehr alt und abgegriffen aus. Der König strich zärtlich darüber, und sein Gesicht war von Trauer gezeichnet.
»Für mich hat es einen Wert«, sagte er.
»Von mir aus nimm es mit ins Grab«, sagte der Krumme Mann. »Außer dir kann ohnehin niemand etwas damit anfangen. Aber bis dahin lass es an seinem Platz liegen, um den Jungen bei der Stange zu halten.«
Mühsam erhob sich der König von den Stufen und ging zu einer kleinen Nische in der Wand, wo er das Buch sorgfältig auf ein goldenes Kissen bettete. David hatte die Nische zuvor nicht bemerkt, weil sie während seiner Begegnung mit dem König hinter einem Vorhang verborgen gewesen war.
»Keine Sorge, Euer Majestät«, sagte der Krumme Mann sarkastisch. »Unser Handel ist fast erledigt.«
Der König runzelte die Stirn. »Es war kein Handel«, sagte er. »Weder für mich noch für die Person, die du als Sicherheit genommen hast.«
Der Krumme Mann sprang mit einem einzigen großen Satz vom Thron und landete direkt vor den Füßen des Königs. Doch der alte Mann duckte sich nicht und wich auch nicht zurück.
»Du hast dich aus freien Stücken darauf eingelassen«, sagte der Krumme Mann. »Ich habe dir gegeben, was du haben wolltest, und ich habe dir klar gesagt, was ich im Gegenzug von dir erwarte.«
»Ich war noch ein Kind«, sagte der König. »Ich war wütend. Ich konnte nicht wissen, welchen Schaden ich damit anrichten würde.«
»Glaubst du etwa, das wäre eine Entschuldigung? Als Kind gab es für dich nur Schwarz und Weiß, Gut und Böse, Genuss und Schmerz. Jetzt siehst du alles nur noch in Grautönen. Du bist nicht einmal mehr imstande, dein Reich zu regieren, weil du nicht bereit bist, zu entscheiden, was richtig und was falsch ist, oder auch nur zuzugeben, dass es so etwas wie richtig und falsch gibt. Du wusstest, worauf du dich einlässt, als wir unsere Abmachung getroffen haben. Die Reue hat deine Erinnerung getrübt, und jetzt willst du mir die Schuld an deiner eigenen Schwäche zuschieben. Pass auf, was du sagst, alter Mann, oder muss ich dich daran erinnern, welche Macht ich noch immer über dich habe?«
»Was kannst du mir denn noch antun, was du nicht schon längst getan hast?«, fragte der König. »Das Einzige, was noch bleibt, ist der Tod, und den willst du mir ja nicht gewähren.«
Der Krumme Mann beugte sich so weit zum König, dass ihre Nasen sich berührten. »Denk dran, mein Guter: Es gibt leichte Tode und schwere Tode. Ich kann dein Hinscheiden so sanft machen wie ein Mittagsschläfchen oder so lang und qualvoll, wie es dein verwelkter Körper und deine brüchigen Knochen zulassen. Vergiss das nie.«
Damit drehte der Krumme Mann sich um und ging zu der Wand hinter dem Thron. Ein Wandbehang mit dem Bild einer Einhornjagd bewegte sich kurz im Fackelschein, dann war nur noch der König im Thronsaal. Der alte Mann ging zu der Nische, schlug das Buch noch einmal auf und betrachtete eine Weile die Seiten, dann klappte er es wieder zu und verschwand durch eine Tür unterhalb der Galerie. Nun war David allein. Er rechnete damit, dass die Wachen zurückkamen, doch nichts geschah. Er wartete noch eine Weile, und als alles ruhig blieb, ging er leise die Treppe hinunter und schlich durch den Saal zu der Nische.
Das also war das Buch, von dem der Förster und Roland gesprochen hatten: Das Buch der verlorenen Dinge. Doch der Krumme Mann hatte behauptet, es sei wertlos, obwohl es dem König offenbar mehr bedeutete als seine Krone. Vielleicht irrte sich der Krumme Mann, dachte David. Vielleicht verstand er einfach nicht, was die Seiten enthielten.
Vorsichtig schlug David den Buchdeckel auf.
28
Vom Buch der verlorenen Dinge
Auf der ersten Seite des Buches war eine Kinderzeichnung von einem großen Haus
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