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Das Buch der verlorenen Dinge

Das Buch der verlorenen Dinge

Titel: Das Buch der verlorenen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Connolly
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mit dem Wandbehang hinter dem Thron. Irgendwie war der Krumme Mann dahinter verschwunden, und dort, wo er hinging, gab es bestimmt keine Wachen. Außerdem war David neugierig. Zum ersten Mal hatte er das Gefühl, dass er mehr wusste als der Krumme Mann oder der König. Es war an der Zeit, dieses Wissen zu nutzen.
    Lautlos schlich er zu dem Wandbehang und hob ihn ein wenig an. Dort war eine Tür. David drückte auf die Klinke, und sie öffnete sich lautlos. Dahinter befand sich ein Gang, beleuchtet von Kerzen, die in eingebauten Nischen flackerten. Die Decke des Gangs war so niedrig, dass David sie fast mit dem Kopf streifte, als er ihn betrat. Er schloss die Tür hinter sich und folgte dem Gang, der immer weiter nach unten führte, in die kalten, dunklen Eingeweide der Burg. Er kam an alten Verliesen vorbei, in denen noch Knochen herumlagen, und einer Folterkammer mit allerlei grausigen Geräten: Bänke, auf denen man Gefangene in die Länge ziehen konnte, bis sie schrien; Daumenschrauben, mit denen man Knochen brechen konnte; Speere und Lanzen und Messer, um das Fleisch zu durchbohren; und ganz hinten in der Ecke eine Eiserne Jungfrau, geformt wie die Mumiensärge, die David im Museum gesehen hatte, aber mit lauter Nägeln im Deckel, die jeden, der dort eingeschlossen wurde, auf qualvolle Weise aufspießten. David wurde flau im Magen, und er ging eilig weiter.
    Schließlich kam er zu einem hohen Raum, in dem ein gewaltiges Stundenglas stand. Beide Behälter des Stundenglases waren jeweils so groß wie ein Haus, aber der obere war fast leer. Das Holz und das Glas, aus denen das Gerät gefertigt war, sahen sehr alt aus. Für irgendjemanden oder irgendetwas lief die Zeit, und sie war beinahe vorüber.
    Neben dem Raum mit dem Stundenglas befand sich eine kleine Kammer mit einem einfachen Bett, einer fleckigen Matratze und einer alten Decke darauf. An der Wand gegenüber dem Bett hingen allerlei Schwerter, Säbel, Dolche und Messer, nach Größe geordnet. An einer anderen Wand stand ein Regal mit Glasbehältern in verschiedenen Größen und Formen. Einer davon schien schwach zu leuchten.
    Plötzlich stieg David ein widerlicher Geruch in die Nase. Er drehte sich um und wäre fast mit dem Kopf gegen eine Girlande aus zwanzig oder dreißig Wolfsschnauzen gestoßen, die an einem Seil von der Decke hingen, einige davon noch blutverschmiert.
    »Wer bist du?«, fragte eine Stimme. Vor Schreck wäre David beinahe das Herz stehen geblieben. Er sah sich suchend um, konnte jedoch niemanden entdecken.
    »Weiß er, dass du hier bist?«, ertönte es wieder. Es war die Stimme eines Mädchens.
    »Ich kann dich nicht sehen«, sagte David.
    »Aber ich kann dich sehen.«
    »Wo bist du?«
    »Hier drüben, auf dem Regal.«
    David folgte der Stimme zu dem Regal mit den Glasbehältern. Dort, in einem grünlichen Glas in der vorderen Reihe, entdeckte er ein winziges Mädchen mit langem blondem Haar und blauen Augen. Sie glomm schwach in der Dunkelheit und trug ein einfaches weißes Nachthemd. Auf Höhe der linken Brust war ein großer, schokoladenbrauner Fleck zu sehen, in dessen Mitte ein Loch war.
    »Du solltest besser verschwinden«, sagte das kleine Mädchen. »Wenn er dich findet, wird er dir wehtun, so wie er mir wehgetan hat.«
    »Was hat er dir denn angetan?«, fragte David.
    Doch das kleine Mädchen schüttelte nur den Kopf und presste die Lippen zusammen, als kämpfe es gegen die Tränen an.
    »Wie heißt du?«, fragte David, um das Thema zu wechseln.
    »Ich heiße Anna«, sagte das kleine Mädchen. Anna.
    »Ich bin David. Wie kann ich dich da rausholen?«
    »Gar nicht«, sagte das Mädchen. »Ich bin nämlich tot.«
    David beugte sich näher zu dem Behälter. Er sah, dass die winzigen Hände des Mädchens das Glas berührten, aber sie hinterließen keine Fingerabdrücke. Ihr Gesicht war bleich, ihre Lippen violett, und dunkle Schatten lagen um ihre Augen. Das Loch in ihrem Nachthemd war jetzt besser zu erkennen, und David überlegte, ob der dunkle Fleck vielleicht getrocknetes Blut war.
    »Wie lange bist du schon hier?«, fragte er.
    »Zu viele Jahre, als dass ich sie zählen könnte«, sagte sie. »Ich war noch sehr jung, als ich hierherkam. Damals war ein kleiner Junge hier in dem Raum. Manchmal träume ich von ihm. Er war so wie ich jetzt, aber viel schwächer. Als ich hereinkam, erlosch er, und ich sah ihn nie wieder. Aber ich verliere auch meine Kraft. Ich habe Angst, dass mir dasselbe passiert wie ihm. Ich werde verschwinden,

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