Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Buch der verlorenen Dinge

Das Buch der verlorenen Dinge

Titel: Das Buch der verlorenen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Connolly
Vom Netzwerk:
was tust du hier? Das ist kein Ort, an dem ein Junge allein herumlaufen sollte. Bist du in dem… Ding da gekommen?«
    Er wies auf die Überreste des Flugzeugs.
    »Nein, das kam nach mir. Ich heiße David. Ich bin durch den Baumstamm hierhergekommen. Da war eine Öffnung, aber jetzt ist sie verschwunden. Deshalb habe ich versucht, die Rinde aufzuschlagen. Ich hatte gehofft, ich könnte wieder ein Loch hineinmachen oder den Baum zumindest markieren, damit ich ihn wiederfinde.«
    »Du bist durch den Baum gekommen?«, fragte der Förster. »Woher denn?«
    »Aus einem Garten«, sagte David. »In einer Ecke war ein Spalt, und da bin ich hineingekrochen. Ich dachte, ich hätte die Stimme meiner Mutter gehört, und bin ihr gefolgt. Und jetzt komme ich nicht mehr zurück.«
    Der Förster deutete auf das Wrack. »Und wo kommt das da her?«
    »Es gab einen Angriff, und da ist es vom Himmel gefallen.«
    Falls diese Antwort den Förster überraschte, so ließ er sich nichts davon anmerken.
    »Da ist ein Mann drin«, sagte er. »Kanntest du ihn?«
    »Er war der Schütze, einer von der Besatzung. Ich habe ihn noch nie zuvor gesehen. Er war Deutscher.«
    »Jetzt ist er tot.«
    Erneut berührte der Förster den Baum, strich mit den Fingern über die Oberfläche, als suche er nach Spuren einer Öffnung unter der Rinde. »Wie du schon sagst, jetzt ist hier kein Durchgang mehr. Aber es war richtig, dass du den Baum markieren wolltest, auch wenn deine Methode ein wenig grob war.«
    Er griff in die Falten seines Mantels und holte ein kleines Knäuel grober Schnur hervor, von der er ein langes Stück abrollte. Er band es um den Stamm, dann nahm er einen kleinen Lederbeutel mit einer grauen, klebrigen Substanz heraus und bestrich die Schnur damit. Das Zeug roch gar nicht gut.
    »Das wird die Tiere und Vögel davon abhalten, an dem Band zu nagen«, erklärte der Förster. Er schwang sich die Axt wieder über die Schulter. »Du kommst am besten mit mir«, sagte er. »Morgen überlegen wir uns, was wir mit dir machen, aber jetzt müssen wir dich erst einmal in Sicherheit bringen.«
    David rührte sich nicht. In der Luft hing immer noch der Geruch nach Blut und Verwesung, und jetzt, wo er die Axt so nah vor sich hatte, meinte er, an der Klinge Spuren von Rot zu sehen. Auf den Kleidern des Mannes waren ebenfalls rote Flecken.
    »Entschuldige«, sagte er mit Unschuldsmiene, »aber wenn du den Wald pflegst, wozu brauchst du dann eine Axt?«
    Der Förster betrachtete David mit der Andeutung eines Schmunzelns, als würde er die Bemühungen des Jungen, sich seine Beunruhigung nicht anmerken zu lassen, durchschauen, wäre aber zugleich beeindruckt von dessen List.
    »Die Axt ist nicht für den Wald«, sagte der Förster, »sondern für die Dinge, die im Wald leben.«
    Er hob den Kopf und schnupperte. Mit der Axt wies er in die Richtung des geköpften Leichnams. »Du hast es gerochen«, sagte er.
    David nickte. »Und gesehen. Hast du das getan?«
    »Ja.«
    »Es sah wie ein Mann aus, aber es war keiner.«
    »Nein«, sagte der Förster. »Es war kein Mann. Wir können später darüber reden. Von mir hast du nichts zu befürchten, aber hier gibt es andere Wesen, vor denen wir uns beide in Acht nehmen müssen. Komm jetzt. Ihre Zeit naht, und die Hitze und der Geruch nach verbranntem Fleisch wird sie anlocken.«
    David folgte dem Förster, da er einsah, dass ihm gar nichts anderes übrig blieb. Er fror, und seine Hausschuhe waren feucht, und so gab der Förster ihm seinen Mantel und nahm den Jungen huckepack. Es war lange her, dass jemand David huckepack getragen hatte. Für seinen Vater war er mittlerweile zu schwer, aber dem Förster schien die Last nichts auszumachen. Sie gingen durch den Wald, der sich endlos vor ihnen zu erstrecken schien. David versuchte, die neue Umgebung genauer zu betrachten, doch der Förster ging so schnell, dass David seine ganze Aufmerksamkeit dafür brauchte, sich festzuhalten. Über ihren Köpfen teilten sich kurz die Wolken, und der Mond wurde sichtbar. Er war leuchtend rot, sah aus wie ein Loch in der Haut der Nacht.
    Der Förster ging noch schneller, eilte mit weit ausholenden Schritten über den Waldboden.
    »Wir müssen uns beeilen«, sagte er. »Sie werden bald hier sein.«
    Noch während er sprach, erhob sich aus der Tiefe des Waldes ein lautes, klagendes Geheul, und der Förster begann zu laufen.

8
    Von Wölfen und Schlimmer-Als-Wölfen
     
     
     
    Der Wald glitt in einem Schleier von Grau und Braun und mattem

Weitere Kostenlose Bücher