Das Buch der verlorenen Dinge
seine Furcht zu überwinden. Er schnappte sich seinen Morgenmantel und lief so schnell und so leise, wie er konnte, die Treppe hinunter und hinaus in den Garten. Dort hielt er inne. Hoch oben im Nachthimmel war ein seltsames Geräusch zu hören, ein leises, unregelmäßiges Tuckern. David blickte hinauf und sah ein schwaches Glühen, wie von einem Meteor, der vom Himmel fiel. Es war ein Flugzeug. Er behielt den Lichtpunkt im Auge, bis er bei den Stufen ankam, die in den Senkgarten führten, dann lief er eilig hinunter. Er wollte nicht stehen bleiben, denn wenn er stehen blieb, würde er womöglich anfangen, darüber nachzudenken, was er da vorhatte, und wenn er anfing, darüber nachzudenken, würde er vielleicht den Mut verlieren. Das Gras raschelte unter seinen Füßen, als er auf das Loch in der Mauer zulief, und das Licht am Himmel wurde heller. Aus dem Flugzeug leckten rote Flammen, und das stotternde Geräusch des Motors dröhnte durch die Nacht. David blieb stehen und sah nach oben. Es fiel schnell, und während des Sturzes lösten sich brennende Teile. Für einen Jäger war es zu groß. Es war ein Bomber. Er meinte, im Feuerschein den Umriss der Flügel erkennen zu können, und hörte das verzweifelte Brummen des einen noch funktionierenden Motors, während die Maschine zur Erde stürzte. Sie wurde immer größer, bis sie schließlich den ganzen Himmel auszufüllen schien, das Haus zu einem Spielzeug zusammenschrumpfen ließ und die Dunkelheit mit orange glühendem Feuer erfüllte. Flammen leckten über das schwarz-weiße Kreuz an ihrem Rumpf, und sie trudelte direkt auf den Senkgarten zu, als ob irgendetwas oben im Himmel David unbedingt daran hindern wollte, in jenes andere Reich hinüberzuwechseln.
Die Entscheidung war ihm abgenommen worden. David blieb keine Zeit mehr. Er zwängte sich durch die Lücke in die Finsternis hinter der Mauer, während die Welt hinter ihm in Flammen aufging.
7
Vom Förster und dem Werk seiner Axt
Die Steine und der Mörtel waren verschwunden. Davids Finger ertasteten jetzt raue Rinde. Er befand sich im Innern eines Baumstammes. Vor ihm war eine rundbogenförmige Öffnung, und dahinter lag ein schattiger Wald. Blätter trudelten langsam auf die Erde. Dornenbüsche und Brennnesseln bildeten ein niedriges Dickicht, aber David konnte nirgends Blumen entdecken. Es war eine Landschaft aus Grün- und Brauntönen. Alles lag in einem merkwürdigen Zwielicht, als zöge gerade die Morgendämmerung herauf oder als neige sich der Tag dem Ende zu.
David verharrte reglos in der Dunkelheit des Stammes. Die Stimme seiner Mutter war verstummt, es war nur noch das leise Rascheln der Blätter zu hören, und irgendwo in der Ferne plätscherte Wasser über Steine. Nirgends war auch nur eine Spur des deutschen Flugzeugs zu sehen, kein Anzeichen, dass es je existiert hatte. David überlegte, ob er umkehren sollte, zum Haus zurücklaufen, seinen Vater wecken und ihm erzählen, was er gesehen hatte. Doch was sollte er sagen, und warum sollte sein Vater ihm glauben, nach allem, was heute passiert war? Er brauchte einen Beweis, ein Mitbringsel aus dieser neuen Welt.
Und so trat David aus dem hohlen Baumstamm heraus. Der Himmel über ihm war dunkel, die Sternenbilder hinter dichten Wolken verborgen. Die Luft roch zunächst frisch und sauber, doch als er tief einatmete, bemerkte er einen Hauch von etwas anderem, weniger Erfreulichem. David konnte es beinahe auf der Zunge schmecken: eine Mischung von Metall und Verwesung. Es erinnerte ihn an den Tag, als er und sein Vater eine tote Katze am Straßenrand gefunden hatten, mit zerrissenem Fell und herausgequollenen Innereien. Die Katze hatte ganz ähnlich gerochen wie die Nachtluft in diesem neuen Land. David erschauerte, und das lag nur zum Teil an der Kälte.
Plötzlich ertönte hinter ihm ein lautes Grollen, und er spürte Hitze in seinem Rücken. Erschrocken warf er sich zu Boden und rollte zur Seite. Der Baumstamm dehnte sich krachend, und die Öffnung wurde immer größer, bis sie aussah wie der Eingang zu einer großen, mit Rinde bewachsenen Höhle. Tief in ihrem Innern loderten Flammen, und dann spuckte sie in hohem Bogen ein Stück vom brennenden Rumpf des deutschen Bombers aus, als wäre es ein ungenießbarer Brocken. Im unteren Teil der Pilotenkanzel lag noch die verbrannte Leiche des Bordschützen, das Maschinengewehr genau auf David gerichtet. Das Wrackstück riss eine Schneise in das Unterholz, bis es, rauchend und lodernd, auf
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