Das Buch der verlorenen Dinge
abgetrennt worden, und zwar erst vor kurzer Zeit, denn auf dem Waldboden war noch eine große rote Blutlache.
David presste sich die Hand vor den Mund. Ihm war übel. Der Anblick von zwei Toten innerhalb so kurzer Zeit war zu viel für seinen Magen. Er wandte sich ab und wollte zu seinem Baum zurück, doch als er darauf zuging, verschwand der breite, höhlenartige Eingang, der Baum schrumpfte auf seine normale Größe zusammen, und die Rinde schloss sich vor seinen Augen. Er wurde ein ganz normaler Baum in einem Wald, kaum zu unterscheiden von all den anderen Bäumen. Entsetzt lief David darauf zu, betastete den Stamm, drückte und klopfte dagegen, in der Hoffnung, dass es ihm irgendwie gelang, den Durchgang in seine eigene Welt wieder zu öffnen, doch nichts geschah. Verzweiflung stieg in ihm auf, doch er wusste, wenn er anfing zu weinen, war alles verloren. Dann wäre er nur noch ein kleiner Junge, hilflos und verängstigt, weit weg von zu Hause. Stattdessen blickte er sich suchend um und entdeckte einen großen, flachen Stein, der aus der Erde herausragte. Er grub ihn aus und schlug mit der schärfsten Kante gegen den Baumstamm, einmal, noch einmal und immer wieder, bis ein Stück der Rinde sich löste und zu Boden fiel. David war, als hätte er ein Zittern in dem Baum gespürt, wie bei einem Menschen, den plötzlich ein heftiger Schmerz durchzuckt. Das weiße Holz unter der Rinde verfärbte sich rot, und etwas, das aussah wie Blut, lief aus der Wunde, rann durch die Risse und Kanäle der Rinde und tropfte auf die Erde.
Eine Stimme sagte: »Lass das. Die Bäume mögen das nicht.«
David fuhr herum. Ein paar Meter von ihm entfernt stand ein Mann im Schatten. Er war groß und kräftig, mit breiten Schultern und kurzem, dunklem Haar. Er trug braune Lederstiefel, die fast bis zu seinen Knien reichten, und einen kurzen Mantel aus Fellstücken. Über der rechten Schulter trug er eine Axt.
David ließ den Stein fallen. »Tut mir leid«, sagte er. »Das wusste ich nicht.«
Der Mann betrachtete ihn schweigend. »Nein«, sagte er schließlich. »Das konntest du wohl auch nicht.«
Er kam auf David zu, und der Junge wich instinktiv ein paar Schritte zurück, bis seine Hände den Baum streiften. Erneut war ihm, als erzittere der Baum unter seiner Berührung, doch das Zittern erschien ihm schwächer als zuvor, als erhole der Baum sich allmählich von seiner Verletzung und fühle sich jetzt, in Gegenwart des Fremden, sicher vor weiteren Angriffen. David hingegen fühlte sich ganz und gar nicht sicher, als der Mann auf ihn zukam, denn er hatte eine Axt, und zwar eine von der Sorte, die aussah, als könne man damit jemandem den Kopf abhacken.
Jetzt, wo der Mann aus dem Schatten herausgetreten war, konnte David sein Gesicht besser sehen. Seine Augen waren so grün, dass er beinahe aussah wie ein Stück Wald, das Menschenform angenommen hatte. Der Mann wirkte streng, aber in seinen Zügen lag auch etwas Freundliches, und der Junge hatte das Gefühl, dass er ihm vertrauen konnte. Er entspannte sich ein wenig, behielt aber ein waches Auge auf die große Axt.
»Wer bist du?«, fragte David.
»Das könnte ich dich genauso fragen«, sagte der Mann. »Dieser Wald untersteht meiner Pflege, und dich habe ich hier noch nie gesehen. Aber um deine Frage zu beantworten, ich bin der Förster. Einen anderen Namen habe ich nicht, oder jedenfalls keinen, der von Belang wäre.«
Der Förster näherte sich dem brennenden Flugzeugwrack. Die Flammen erstarben allmählich und ließen nur den verkohlten Rahmen zurück. Er sah aus wie das Gerippe eines riesigen Tieres, ins Feuer geworfen, nachdem das Fleisch von den Knochen getrennt worden war. Der Schütze war kaum noch zu erkennen, nur ein dunkler Umriss in einem Gewirr aus Metallstreben und Motorteilen. Verwundert schüttelte der Förster den Kopf, dann kehrte er zu David zurück. Er streckte die Hand aus, berührte den Stamm des verwundeten Baumes und betrachtete eingehend den Schaden, den David angerichtet hatte; dann tätschelte er den Baum, als wäre er ein Pferd oder ein Hund. Er ging in die Knie, löste ein Stück Moos von einem nahe gelegenen Stein und bedeckte damit die offene Stelle.
»Keine Sorge, alter Freund«, sagte er zu dem Baum. »Das wird bald heilen.«
Hoch oben über Davids Kopf bewegten sich die Äste leicht, obwohl all die anderen Bäume reglos blieben.
Der Förster wandte seine Aufmerksamkeit wieder David zu. »Und jetzt bist du dran«, sagte er. »Wie heißt du, und
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