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Das Buch der verlorenen Dinge

Das Buch der verlorenen Dinge

Titel: Das Buch der verlorenen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Connolly
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zerrissene Hosen, und auch sie erhoben sich auf die Hinterbeine. Doch es waren viele darunter, die wie ganz normale Wölfe aussahen. Sie waren kleiner und blieben auf allen vieren und wirkten auf David wild und gedankenlos. Es waren diejenigen, die menschliche Züge aufwiesen, die David am meisten Angst einjagten.
    Der Förster setzte David auf dem Boden ab. »Bleib dicht bei mir«, sagte er. »Falls irgendetwas passiert, lauf ins Haus.«
    Er klopfte David auf den Rücken, und David spürte, wie etwas in die Tasche des Mantels glitt. So beiläufig wie möglich schob er die Hände in die Taschen, als wolle er sie dort aufwärmen. Seine Finger ertasteten einen großen, eisernen Schlüssel. David umklammerte ihn so fest, als ob sein Leben davon abhinge – was, wie ihm allmählich aufging, möglicherweise sogar stimmte.
    Der Wolfsmann neben dem Haus musterte David aufmerksam, und sein Blick war so furchteinflößend, dass David wegsehen musste, auf den Boden, auf den Rücken des Försters, ganz gleich wohin, nur nicht in diese Augen, die so vertraut und zugleich so fremd waren. Mit einer langen Kralle berührte der Wolfsmann eine der Lanzen, die aus der Wand des Hauses ragten, als wolle er überprüfen, wie gefährlich sie waren. Dann sprach er. Seine Stimme war tief und heiser und grollend, aber David verstand jedes Wort.
    »Wie ich sehe, warst du fleißig, Förster«, sagte er. »Du hast deinen Unterschlupf befestigt.«
    »Der Wald verändert sich«, erwiderte der Förster. »Es laufen seltsame Wesen darin herum.«
    Er verlagerte die Axt in seiner Hand, damit er sie besser im Griff hatte. Falls der Wolfsmann die unterschwellige Drohung bemerkte, so ließ er sich nichts davon anmerken. Stattdessen knurrte er bestätigend, als wären er und der Förster Nachbarn, die sich zufällig bei einem Spaziergang im Wald begegnet waren.
    »Das ganze Land verändert sich«, sagte der Wolfsmann. »Der alte König hat keine Macht mehr über sein Reich.«
    »Ich bin nicht klug genug, um solche Dinge zu beurteilen«, sagte der Förster. »Ich bin dem König nie begegnet, und er zieht mich nicht zu Rate, was sein Reich betrifft.«
    »Vielleicht sollte er das«, sagte der Wolfsmann. Es sah fast aus, als ob er lächelte, aber es lag keine Freundlichkeit darin. »Immerhin benimmst du dich, als gehöre der Wald dir. Du solltest nicht vergessen, dass es noch andere gibt, die dein Herrschaftsrecht in Frage stellen könnten.«
    »Ich behandle alle Lebewesen hier mit dem Respekt, der ihnen zusteht, aber es entspricht der natürlichen Ordnung der Dinge, dass der Mensch über alle anderen herrscht.«
    »Dann ist es vielleicht an der Zeit, dass eine neue Ordnung entsteht«, sagte der Wolfsmann.
    »Und wie sollte die aussehen?«, fragte der Förster. David hörte Spott in seiner Stimme. »Eine Herrschaft von Wölfen, von Raubtieren? Dass du auf den Hinterbeinen läufst, macht dich noch nicht zu einem Menschen, und dass du einen goldenen Ohrring trägst, macht dich noch nicht zu einem König.«
    »Es gibt viele vorstellbare Königreiche und Könige«, sagte der Wolfsmann.
    »Du wirst hier nicht herrschen«, sagte der Förster. »Wenn du es versuchst, werde ich dich und alle deine Brüder und Schwestern töten.«
    Der Wolfsmann fletschte die Zähne und knurrte. David fing an zu zittern, aber der Förster wich keinen Zentimeter zurück.
    »Damit hast du offenbar schon begonnen. War das dein Werk, drüben im Wald?«, fragte der Wolfsmann scheinbar unbeteiligt.
    »Dies ist mein Wald. Alles darin ist mein Werk.«
    »Ich meine, was dem armen Ferdinand zugestoßen ist, meinem Kundschafter. Er scheint den Kopf verloren zu haben.«
    »War das sein Name? Ich hatte keine Gelegenheit, ihn danach zu fragen. Er war zu erpicht darauf, mir an die Kehle zu gehen, um einen Plausch mit ihm zu halten.«
    Der Wolfsmann leckte sich über die Lefzen. »Er hatte Hunger«, sagte er. »Wir alle haben Hunger.«
    Sein Blick wechselte vom Förster zu David, wie es während des Gesprächs schon mehrfach geschehen war, doch diesmal ruhte er länger auf dem Jungen.
    »Der Hunger wird ihn nicht mehr plagen«, sagte der Förster. »Ich habe ihn von dieser Last befreit.«
    Doch Ferdinand war vergessen. Der Wolfsmann hatte seine Aufmerksamkeit jetzt ganz auf David gerichtet.
    »Was hast du denn da für ein merkwürdiges Wesen aufgestöbert?«, fragte der Wolfsmann. »Neues Fleisch aus dem Wald?«
    Während er sprach, troff ihm ein langer, dünner Speichelfaden aus der Schnauze. Der

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