Das Buch der verlorenen Dinge
»Diese Wesen sind unnatürlich, eine Bedrohung der herrschenden Ordnung. Der Wald will sie nicht haben. Ich vermute, es hängt mit dem König zusammen und mit dem Schwinden seiner Macht. Diese Welt ist dabei, sich aufzulösen, und sie wird mit jedem Tag merkwürdiger. Die Loups sind die gefährlichsten Wesen, die sich bisher hier zusammengerottet haben, denn in ihnen kämpft das Schlimmste von Mensch und Tier um die Oberhand.«
»Loups?«, fragte David. »Ist das der Name dieser Wolfswesen?«
»Sie sind keine Wölfe, obwohl die Wölfe ihnen folgen. Sie sind aber auch keine Menschen, obwohl sie auf zwei Beinen laufen, wenn es ihnen in den Kram passt und ihr Anführer sich mit Schmuck und feinen Kleidern ausstaffiert. Er nennt sich Leroi, und er ist ebenso klug wie ehrgeizig und ebenso grausam wie durchtrieben. Und jetzt will er den König stürzen. Ich höre Geschichten von Reisenden, die durch diesen Wald kommen. Sie erzählen, dass riesige Wolfsrudel durch das Land ziehen, weiße Wölfe aus dem Norden und schwarze aus dem Osten, alle folgen dem Ruf von ihren Brüdern, den Grauen, und deren Anführern, den Loups.«
Und während sie am Feuer saßen, erzählte der Förster David eine Geschichte.
Die erste Geschichte des Försters
Es war einmal ein Mädchen, das lebte am Rand des Waldes. Es war munter und aufgeweckt, und es trug stets einen roten Mantel, denn so konnte es leicht gefunden werden, falls es sich einmal verlief, weil der rote Mantel vor dem Grün der Bäume und Sträucher gut zu sehen war. Die Jahre vergingen, das Mädchen wurde allmählich zur Frau, und ihre Schönheit wuchs von Tag zu Tag. Viele Männer wollten sie zur Braut, doch sie wies sie alle ab. Keiner war gut genug für sie, denn sie war klüger als alle Männer, die sie traf, und sie boten ihr keinerlei Herausforderung.
Ihre Großmutter lebte in einem Haus im Wald, und die junge Frau besuchte sie oft, brachte ihr einen Korb mit Brot und Fleisch und leistete ihr ein wenig Gesellschaft. Während ihre Großmutter schlief, wanderte sie zwischen den Bäumen umher und kostete die wilden Beeren und seltsamen Früchte des Waldes. Eines Tages, als sie durch einen dunklen Hain ging, kam ein Wolf. Er war scheu und versuchte, unbemerkt an ihr vorbeizuschleichen, doch die junge Frau hatte sehr feine Sinne. Sie bemerkte den Wolf, sah ihm in die Augen und verliebte sich in die Fremdheit darin. Als der Wolf sich abwandte, folgte sie ihm, tiefer in den Wald hinein, als sie je zuvor gewesen war. Der Wolf versuchte sie abzuhängen, indem er sich abseits aller Wege und Pfade hielt, doch die junge Frau war zu geschickt für ihn, und so ging die Verfolgungsjagd immer weiter. Schließlich war der Wolf es leid und stellte sich ihr entgegen. Er fletschte die Zähne und knurrte warnend, doch sie hatte keine Angst.
»Mein schöner Wolf«, flüsterte sie. »Du hast nichts von mir zu befürchten.«
Sie streckte die Hand aus, legte sie auf den Kopf des Wolfes und kraulte ihm besänftigend das Fell. Und der Wolf sah, was für schöne Augen sie hatte (damit sie ihn besser sehen konnte), und was für sanfte Hände (damit sie ihn besser streicheln konnte) und was für weiche, rote Lippen (damit sie ihn besser schmecken konnte). Die junge Frau beugte sich vor und küsste den Wolf. Sie warf ihren roten Mantel ab, stellte ihren Korb mit Blumen beiseite und legte sich zu dem Wolf. Aus ihrer Vereinigung entstand ein Wesen, das mehr Mensch war als Wolf. Er war der Erste der Loups, der mit dem Namen Leroi, und nach ihm folgten noch viele andere. Es kamen noch mehr Frauen, herbeigelockt von der jungen Frau in dem roten Mantel. Sie ging die Waldwege entlang und versprach denjenigen, die ihr begegneten, köstliche, saftige Beeren und Quellwasser, so rein, dass es die Haut auf ewig jung hielt. Manchmal wanderte sie auch bis zum Rand einer Stadt oder eines Dorfes, wartete, bis eine junge Frau vorbeikam, und lockte sie mit gespielten Hilfeschreien in den Wald.
Doch manche gingen auch freiwillig mit ihr, denn es gibt Frauen, die davon träumen, sich zu einem Wolf zu legen.
Keine von ihnen wurde je wieder gesehen, denn nach einiger Zeit wandten sich die Loups gegen diejenigen, die sie erschaffen hatten, und verspeisten sie im Schein des Mondes.
Und so kamen die Loups in die Welt.
Als die Geschichte zu Ende war, ging der Förster zu der Eichentruhe, die neben dem Bett in der Ecke stand, und nahm ein Hemd heraus, das ungefähr Davids Größe hatte, eine Hose, die
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