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Das Buch der verlorenen Dinge

Das Buch der verlorenen Dinge

Titel: Das Buch der verlorenen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Connolly
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Festmahl.«
    In dem Moment, als David den Schlüssel ins Schloss steckte, ließ der Wolfsmann sich auf alle viere nieder, straffte die Muskeln und setzte zum Sprung an.
    Plötzlich gab einer der Wölfe am Waldrand ein warnendes Bellen von sich. Das Tier schien etwas Bedrohliches bemerkt zu haben. Das gesamte Rudel wandte sich in seine Richtung, und selbst der Anführer war einen entscheidenden Moment lang abgelenkt. David riskierte einen Blick und sah, wie sich etwas Dunkles, Längliches um einen Baumstamm wand wie eine Schlange. Der Wolf wich davor zurück und winselte leise. Während er verängstigt auf den Baumstamm starrte, senkte sich eine grüne Efeuranke von einem Ast herab. Sie schlang sich um den Hals des Wolfes, klammerte sich in sein Fell und riss ihn hoch in die Luft. Das Tier zappelte hilflos mit den Beinen, während es langsam erstickte.
    Im gleichen Augenblick schien der ganze Wald in Bewegung zu geraten. Grüne Ranken wanden sich um Beine und Schnauzen und Hälse, zerrten Wölfe und Wolfsmänner in die Luft oder fesselten sie an den Boden und zogen sich immer fester zusammen, bis jeglicher Widerstand erstarb. Natürlich versuchten die Wölfe sich zu wehren, schnappten und knurrten, aber gegen einen solchen Feind waren sie machtlos, und diejenigen, die noch die Möglichkeit dazu hatten, gaben alsbald auf und versuchten zu fliehen. David drehte den Schlüssel herum, und der Anführer stand wie angenagelt da, hin- und hergerissen zwischen seiner Gier nach Fleisch und seinem Drang zu überleben. Das Efeu kroch bereits über die feuchte Erde des Gemüsebeets auf ihn zu. Er musste sich rasch entscheiden: Kampf oder Flucht. Mit einem letzten wütenden Knurren zu David und dem Förster machte der Wolfsmann kehrt und lief davon. Der Förster packte David, sprang mit ihm in die Sicherheit des Hauses und verriegelte die Tür, sodass nichts mehr von dem Todesgeheul am Waldrand zu hören war.

9
    Von den Loups und davon,
    wie sie in die Welt kamen
     
     
     
    David trat an eines der vergitterten Fenster, während sich ein warmes, orange-rotes Licht in dem kleinen Haus ausbreitete. Nachdem der Förster sich vergewissert hatte, dass die Tür fest verriegelt und die Wölfe geflohen waren, hatte er Scheite im Kamin aufgestapelt und Feuer gemacht. Falls das, was dort draußen geschehen war, ihn beunruhigte, so ließ er sich nichts davon anmerken. Im Gegenteil, er wirkte sogar erstaunlich ruhig, und diese Ruhe übertrug sich auch ein wenig auf David. Eigentlich hätte er vor Angst und Entsetzen wie erstarrt sein müssen, immerhin war er von sprechenden Wölfen bedroht worden, hatte einen Überfall von mordlustigem Efeu miterlebt, und der verkohlte Kopf eines deutschen Bordschützen war vor seinen Füßen gelandet, angenagt von scharfen Reißzähnen. Doch er war lediglich verwundert und ziemlich neugierig.
    Davids Finger und Zehen kribbelten. In der zunehmenden Wärme begann seine Nase zu laufen, und er zog den Mantel des Försters aus. Er wischte sich die Nase am Ärmel seines Morgenmantels ab, schämte sich dann jedoch prompt. Der mittlerweile arg ramponierte Morgenmantel war das einzige halbwegs präsentable Kleidungsstück, das er bei sich hatte, und es schien unklug, seinen ohnehin nicht eben glorreichen Zustand noch weiter zu verschlechtern. Außer dem Morgenmantel besaß er noch einen einzelnen Hausschuh, eine halb zerfetzte, schlammbespritzte Schlafanzughose und ein Schlafanzugoberteil, das, verglichen mit dem Rest, fast wie neu aussah.
    Das Fenster, an dem er stand, war von innen zusätzlich mit Holzklappen verschlossen, die nur einen schmalen, horizontalen Schlitz besaßen. David spähte hindurch und sah, wie die toten Wölfe in den Wald geschleift wurden. Einige von ihnen hinterließen blutige Spuren.
    »Sie werden immer dreister und durchtriebener, und das macht es schwieriger, sie zu töten«, sagte der Förster. Er hatte sich zu David ans Fenster gestellt. »Noch vor einem Jahr hätten sie einen solchen Angriff auf mich oder jemanden, der unter meinem Schutz steht, nicht gewagt, aber jetzt gibt es mehr von ihnen als jemals zuvor, und ihre Zahl wächst von Tag zu Tag. Bald werden sie womöglich ihre Drohung wahr machen und versuchen, das Königreich unter ihre Herrschaft zu bringen.«
    »Das Efeu hat sie angegriffen«, sagte David. Er konnte immer noch nicht recht glauben, was er gesehen hatte.
    »Der Wald – oder zumindest dieser Wald – hat Mittel und Wege, um sich schützen«, sagte der Förster.

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