Das Buch der verlorenen Dinge
der Boden immer feucht ist. Ich kümmere mich um den Wald, halte die Wege frei und pflege beschädigte Bäume, so gut ich kann. Das sind meine Regeln, und es macht mir Freude, sie zu befolgen.«
Er legte David sanft die Hand auf die Schulter, und David sah Verständnis in seinem Gesicht. »Regeln und Gewohnheiten sind gut, aber sie müssen dir Befriedigung verschaffen. Bist du sicher, dass das bei deinem Berühren und Zählen der Fall ist?«
David schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Aber wenn ich es nicht tue, habe ich Angst, dass etwas Schlimmes passiert.«
»Dann überleg dir Regeln, die dir das Gefühl von Sicherheit geben. Du hast mir erzählt, dass du einen kleinen Bruder hast. Sieh jeden Morgen nach ihm. Sieh nach deinem Vater und deiner Stiefmutter. Kümmere dich um die Pflanzen im Garten oder auf der Fensterbank. Such dir andere, die schwächer sind als du, und versuch, ihnen zu helfen, wo du kannst. Das sind gute Regeln, um sein Leben danach auszurichten.«
David nickte, aber er wandte das Gesicht ab, damit der Förster nicht darin lesen konnte. Vielleicht hatte der Förster ja recht, aber David brachte es nicht über sich, so etwas für Georgie und Rose zu tun. Er würde sich bemühen, ein paar andere, leichtere Pflichten zu übernehmen, aber diese Störenfriede in seinem Leben auch noch zu beschützen, das war einfach zu viel.
Der Förster nahm Davids alte Kleider – seinen zerrissenen Morgenmantel, den schmutzigen Schlafanzug und den einzelnen, schlammverkrusteten Hausschuh – und packte sie in einen groben Sack. Dann warf er sich den Sack über die Schulter und löste die Riegel der Tür.
»Wohin gehen wir?«, fragte David.
»Wir bringen dich in dein Land zurück«, sagte der Förster.
»Aber das Loch in dem Baum ist doch verschwunden.«
»Dann werden wir versuchen, es wieder erscheinen zu lassen.«
»Aber ich habe meine Mutter noch nicht gefunden«, sagte David.
Der Förster sah ihn voller Mitgefühl an. »Deine Mutter ist tot. Das hast du mir selbst gesagt.«
»Aber ich habe sie gehört! Ich habe ihre Stimme gehört!«
»Vielleicht, aber vielleicht war es auch nur etwas, das so ähnlich klang«, erwiderte der Förster. »Ich kenne gewiss nicht jedes Geheimnis dieses Landes, aber eines kann dir sagen: Es ist ein gefährliches Land, und es wird mit jedem Tag gefährlicher. Du musst zurück. Mit einem hatte der Loup Leroi recht: Ich kann dich nicht beschützen. Ich kann mich kaum selbst beschützen. Und jetzt komm. Diese Zeit ist günstig zum Reisen, denn die Nachtwesen haben sich zur Ruhe gelegt, und die Übelsten von den Tagwesen sind noch nicht wach.«
David sah ein, dass ihm wohl nichts anderes übrig blieb, und so folgte er dem Förster aus dem Haus und in den Wald. Immer wieder blieb der Förster stehen und lauschte, die Hand warnend erhoben, als Zeichen für David, dass er still sein und sich nicht rühren sollte.
»Wo sind die Loups und die Wölfe?«, fragte David, nachdem sie etwa eine Stunde gegangen waren. Die einzigen Lebewesen, die sie unterwegs gesehen hatten, waren Vögel und Insekten gewesen.
»Nicht weit von hier, fürchte ich«, antwortete der Förster. »Wahrscheinlich suchen sie in anderen Teilen des Waldes, wo sie relativ sicher vor Angriffen sind, nach Beute, aber sie werden bald wieder versuchen, dich zu kriegen, deshalb musst du fort von hier, bevor sie zurückkommen.«
David überlief ein Schauer bei der Vorstellung, wie Leroi und seine Wölfe sich mit gefletschten Zähnen auf ihn stürzten. Allmählich dämmerte ihm, wie gefährlich es für ihn sein konnte, in diesem Land nach seiner Mutter zu suchen, doch wie es schien, war ihm die Entscheidung, ob er nach Hause gehen sollte oder nicht, bereits abgenommen worden – zumindest fürs Erste. Er konnte ja jederzeit wiederkommen, wenn er wollte. Schließlich existierte der Senkgarten noch, sofern das abgestürzte Flugzeug ihn nicht völlig zerstört hatte.
Schließlich gelangten sie zu dem Waldstück mit den riesigen Bäumen, durch das David die Welt des Försters betreten hatte. Als sie dort ankamen, blieb der Förster so abrupt stehen, dass David fast in ihn hineingelaufen wäre. Vorsichtig spähte er am Rücken des Försters vorbei, um zu sehen, was der Anlass für den plötzlichen Halt war.
»Oh nein«, stöhnte David.
Jeder Baum, so weit das Auge reichte, war mit einer Schnur markiert, und jede Schnur, das verriet ihm seine Nase, war mit dem gleichen stinkenden Zeug beschmiert, das der Förster
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