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Das Buch der verlorenen Dinge

Das Buch der verlorenen Dinge

Titel: Das Buch der verlorenen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Connolly
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von Stürmen und gewaltigen Wellen heimgesucht. Im Norden und Westen lagen Berge, doch sie waren den größten Teil des Jahres mit Schnee bedeckt und unpassierbar.
    Während sie gingen, erzählte der Förster David noch mehr von den Loups. »In den alten Zeiten, bevor es die Loups gab, waren Wölfe berechenbare Tiere«, erklärte er. »Jedes Rudel, das meist nur aus etwa fünfzehn oder zwanzig Wölfen bestand, hatte ein Revier, in dem es lebte und jagte und seine Jungen großzog. Dann tauchten die Loups auf, und alles veränderte sich. Die Rudel wurden größer, Bündnisse wurden geschlossen, Reviere vergrößerten sich oder verloren gänzlich an Bedeutung, und Grausamkeit hielt Einzug. Früher starben etwa die Hälfte aller Wolfsjungen. Sie brauchten mehr zu fressen als ihre Eltern, um zu wachsen, und wenn die Nahrung knapp war, verhungerten sie. Manche wurden auch von ihren eigenen Eltern getötet, aber nur wenn sie Anzeichen von Krankheit zeigten. Im Allgemeinen waren Wölfe gute Eltern, sie teilten ihre Beute mit den Jungen, beschützten sie und kümmerten sich liebevoll um sie.
    Doch mit den Loups kam eine neue Art der Jungenaufzucht. Jetzt werden nur noch die Kräftigsten gefüttert, höchstens zwei oder drei von jedem Wurf, und manchmal nicht einmal das. Die Schwachen werden gefressen. Auf diese Weise bleibt das Rudel stark, aber das Wesen der Tiere hat sich verändert. Jetzt kämpft jeder gegen jeden, und es gibt keinen Zusammenhalt mehr. Nur die Herrschaft der Loups hält sie unter Kontrolle. Doch ohne die Loups wären sie wahrscheinlich noch so wie früher.«
    Der Förster erklärte David auch, wie er die Weibchen von den Männchen unterscheiden konnte. Die Wölfinnen hatten eine schmalere Schnauze und Stirn, Hals und Schultern waren schlanker, und ihre Beine waren kürzer, aber als Jungtiere waren sie schneller als die gleichaltrigen Rüden, was sie zu besseren Jägern und tödlicheren Feinden machte. In normalen Rudeln waren die Wölfinnen oft die Anführer, aber auch diese natürliche Ordnung der Dinge hatten die Loups auf den Kopf gestellt. Unter ihnen gab es durchaus Weibchen, aber die Entscheidungen wurden von Leroi und seinen Kumpanen gefällt. Möglicherweise war das eine der Schwächen der Loups, meinte der Förster. Ihre Arroganz hatte sie dazu verleitet, Tausende von Jahren weiblichen Instinkts als überflüssig abzutun. Jetzt wurden sie nur noch von ihrer Machtgier geleitet.
    »Wölfe geben eine Beute niemals auf«, sagte der Förster, »nur wenn sie völlig erschöpft sind. Sie können zehn oder fünfzehn Meilen in einem Tempo laufen, das kein Mensch jemals erreicht, und noch weitere fünf Meilen im lockeren Trab, bevor sie sich ausruhen müssen. Die Loups haben sie um einiges gebremst, weil sie darauf bestehen, auf zwei Beinen zu laufen, und nicht mehr so flink sind wie früher, aber zu Fuß sind wir ihnen noch immer hoffnungslos unterlegen. Hoffen wir, wenn wir heute Abend unser Ziel erreichen, dass es dort Pferde gibt. Ich kenne da einen Mann, der mit Pferden handelt, und ich habe genug Gold dabei, um uns eines zu kaufen.«
    Es gab keine Wege und Pfade mehr, und so mussten sie sich ganz auf den Orientierungssinn des Försters verlassen. Doch je weiter sie kamen, desto häufiger blieb er stehen und untersuchte die Dichte des Mooses und die Formen, die der Wind in die Bäume geschnitzt hatte, um sich zu vergewissern, dass sie noch auf dem richtigen Weg waren. Während dieser ganzen Zeit kamen sie nur an einem einzigen Haus vorbei, und das war eine braune Ruine. Zu seiner Verwunderung sah David, dass das Haus nicht zusammengebrochen, sondern geschmolzen war; nur der Schornstein stand noch, schwarz von Ruß, aber unversehrt. An den Mauerresten hingen heruntergelaufene und erstarrte Tropfen, und dort, wo die Fenster gewesen waren, wölbte sich die Masse blasenartig nach innen. Ihr Wegführte sie nahe genug daran vorbei, dass David das seltsame Gebilde berühren konnte, und nun konnte er auch sehen, dass das Innere der Mauern aus einer helleren, ebenfalls braunen Substanz bestand. Er rieb mit der Hand über den Türrahmen, dann kratzte er mit dem Nagel daran. Die Beschaffenheit des Materials und der leichte Duft, den es verströmte, kamen David vertraut vor.
    »Das ist ja Schokolade«, rief er aus. »Und Lebkuchen.«
    Er brach ein größeres Stück heraus und wollte es sich gerade in den Mund stecken, da schlug der Förster es ihm aus der Hand.
    »Nicht«, sagte er. »Es sieht zwar lecker aus und

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