Das Buch der verlorenen Dinge
brätst.«
Die alte Frau lachte keckernd.
»Kluges Mädchen«, rief sie. »Aber nicht klug genug, um Omas Teller zu entgehen.«
Sie öffnete den Käfig, packte das Mädchen am Kragen und zerrte es heraus. Dann verriegelte sie den Käfig wieder und führte das Mädchen zum Ofen. Er war noch nicht heiß genug, aber es würde nicht mehr lange dauern.
»Da passe ich doch niemals hinein«, sagte das Mädchen. »Der Ofen ist zu klein.«
»Unsinn«, sagte die Alte. »Da drin habe ich schon viel Größere als dich gebraten.«
Das Mädchen sah sie zweifelnd an. »Aber ich habe lange Arme und Beine, und viel Fleisch daran. Nein, ich passe ganz bestimmt nicht in den Ofen. Und wenn du mich hineinzwängst, kriegst du mich nicht wieder heraus.«
Die Alte packte das Mädchen bei den Schultern und schüttelte es. »Ich habe mich in dir geirrt«, sagte sie. »Du bist ein dummes, einfältiges Ding. Sieh her, ich zeige dir, wie groß der Ofen ist.«
Sie kletterte hinauf und schob ihren Kopf und ihre Schultern in die Öffnung des Ofens.
»Siehst du?«, rief sie, und ihre Stimme hallte im Innern wider. »Da ist reichlich Platz für mich und erst recht für ein Mädchen wie dich.«
Da nahm das Mädchen alle Kraft zusammen, stieß die alte Frau in den Ofen und knallte die Tür zu. Die Alte versuchte, sie wieder aufzutreten, doch das Mädchen war schneller und schob den Riegel vor (den hatte die alte Frau dort angebracht, damit kein Kind ihrem Ofen entkommen konnte). Dann legte sie noch mehr Scheite ins Feuer, und so wurde die Alte langsam geröstet, während sie schrie und jammerte und dem Mädchen die fürchterlichsten Qualen androhte. Der Ofen war so heiß, dass das Fett in ihrem Körper zu schmelzen begann, und es breitete sich ein so scheußlicher Gestank aus, dass dem Mädchen übel wurde. Doch die Alte hörte nicht auf zu keifen, selbst als sich die Haut von ihrem Fleisch löste und das Fleisch von den Knochen, bis sie endlich starb. Da zog das Mädchen brennende Scheite aus dem Feuer und legte sie rund um das Haus. Dann nahm sie ihren Bruder bei der Hand und führte ihn fort, während das Haus hinter ihnen in der Hitze der Flammen schmolz. Nur der Schornstein blieb stehen, und sie kehrten nie dorthin zurück.
In den Monaten, die folgten, fühlte sich das Mädchen immer wohler im Wald. Sie baute einen Unterschlupf, und im Lauf der Zeit wurde daraus ein kleines Haus. Sie lernte, für sich zu sorgen, und dachte immer weniger an ihr altes Leben. Doch ihr Bruder war die ganze Zeit unglücklich und sehnte sich nach seiner Mutter. Nach einem Jahr und einem Tag verließ er seine Schwester und kehrte zu seinem alten Heim zurück, doch seine Mutter und sein Stiefvater waren schon seit langem nicht mehr dort, und niemand konnte ihm sagen, wohin sie gegangen waren. Also ging er wieder in den Wald, aber nicht zu seiner Schwester, denn er war neidisch und böse auf sie. Stattdessen fand er einen Weg, der sorgfältig gepflegt und frei von Wurzeln und Dornen war, und die Sträucher an den Seiten bogen sich unter saftigen Beeren. Er folgte ihm und naschte im Gehen von den Beeren, doch er merkte nicht, dass der Weg hinter ihm mit jedem Schritt verschwand.
Nach einer Weile kam er zu einer Lichtung, und auf der Lichtung stand ein hübsches kleines Haus, mit Efeu an den Mauern und Blumen neben der Tür und einer Rauchfahne über dem Schornstein. Es duftete nach frisch gebackenem Brot, und auf der Fensterbank stand ein Kuchen zum Abkühlen. In der Tür erschien eine Frau, schön und strahlend, wie seine Mutter einst gewesen war. Sie winkte ihm zu und bedeutete ihm, näher zu kommen, und das tat er.
»Komm nur herein«, sagte sie. »Du siehst müde aus, und Beeren sind nicht genug, um einen Jungen, der noch wächst, satt zu machen. Ich habe Essen auf dem Feuer und ein Bett, auf dem du dich ausruhen kannst. Bleib, so lange du willst, denn ich habe keine Kinder, und ich habe mir immer einen Jungen gewünscht.«
Der Junge warf die Beeren fort, der Weg hinter ihm verschwand für immer, und der Junge folgte der Frau in das Haus, wo ein großer Topf über dem Feuer blubberte und ein scharfes Messer auf dem Fleischerbrett bereitlag.
Und er ward nie mehr gesehen.
12
Von Brücken und Rätseln
und den zahlreichen unangenehmen
Eigenschaften von Trollen
Das Licht veränderte sich, als der Förster seine Geschichte beendet hatte. Er schaute zum Himmel, als hoffe er, die Dunkelheit würde noch ein wenig auf sich warten lassen, dann blieb
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