Das Buch der verlorenen Dinge
Sie war so tief, dass ihm schwindelig wurde. »Wie sollen wir da hinüberkommen?«, fragte er.
»Ungefähr eine halbe Meile flussabwärts ist eine Brücke«, sagte der Förster. »Das schaffen wir, bevor es dunkel wird.«
Sie folgten der Schlucht, hielten sich dabei aber immer dicht am Waldrand, damit keine Gefahr bestand, dass sie ausrutschten und in die furchtbare Schlucht stürzten, wo die Brut lauerte. David konnte ihr Flügelschlagen hören, und mehr als einmal meinte er zu sehen, wie eines von den Wesen über dem Rand der Schlucht auftauchte und ihnen einen bösen Blick zuwarf.
»Hab keine Angst«, sagte der Förster. »Das sind feige Kreaturen. Solltest du fallen, würden sie dich in der Luft auffangen und dich mit ihren Krallen und Zähnen auseinanderreißen, aber sie würden es niemals wagen, dich hier auf dem Boden anzugreifen.«
David nickte, doch er fühlte sich alles andere als sicher. In diesem Land schien der Hunger stärker zu sein als die Feigheit, und die Harpyen der Brut waren genauso dünn und ausgemergelt wie die Wölfe und bestimmt auch genauso hungrig.
Nachdem sie eine Weile gegangen waren, der Klang ihrer Schritte begleitet vom Flügelschlag der Harpyen, erblickten sie zwei Brücken, die nebeneinander über die Schlucht führten. Beide Brücken sahen genau gleich aus. Sie waren aus Seilen geknüpft, mit ungleichmäßigen Holzplanken als Trittfläche, und wirkten auf David wenig vertrauenerweckend.
Verdutzt starrte der Förster sie an. »Nanu«, sagte er. »Früher war hier immer nur eine Brücke.«
»Nun«, erwiderte David achselzuckend, »jetzt sind es zwei.« Er fand es nicht gerade eine Zumutung, zwei Brücken zur Auswahl zu haben. Vielleicht war hier viel Betrieb. Schließlich gab es ja offenbar keine andere Möglichkeit, über die Schlucht zu kommen, es sei denn, man konnte fliegen und war bereit, es mit den Harpyen aufzunehmen.
Er vernahm das Summen von Fliegen und folgte dem Förster zu einer kleinen Senke knapp außer Sichtweite der Schlucht. Dort standen die Überreste von einem Haus und mehreren Ställen, doch man sah auf den ersten Blick, dass dort niemand mehr lebte. Vor einem der Ställe lag der Kadaver eines Pferdes; außer den Knochen war kaum noch etwas von ihm übrig. David wartete, während der Förster einen Blick in die Ställe warf und dann durch die offene Tür in das Haus spähte. Mit gesenktem Kopf kam er zu David zurück.
»Der Pferdehändler ist fort«, sagte er. »Es sieht aus, als wäre er mitsamt den überlebenden Pferden geflohen.«
»Die Wölfe?«, fragte David.
»Nein, das war etwas anderes.«
Sie kehrten zur Schlucht zurück. Eine der Harpyen schwebte nicht weit von ihnen in der Luft und beobachtete sie; ihre Flügel flatterten in schnellen, kleinen Schlägen, um sie auf der Stelle zu halten. Plötzlich jedoch bäumte sich ihr Körper auf, und die silberne, gebogene Pfeilspitze einer Harpune bohrte sich durch ihre Brust. Das Seil, an dem der Pfeil befestigt war, kam von irgendwo aus der Felswand. Die Harpye packte den Pfeil und zerrte daran, als könne sie sich irgendwie davon befreien und entkommen, doch dann erstarb ihr Flügelschlag, und sie stürzte taumelnd und zuckend nieder, bis das Seil sich straffte und sie mit einem dumpfen Geräusch gegen den Felsen schlug. Vom Rand der Schlucht sahen David und der Förster zu, wie die tote Harpye, festgehalten von der breiten, gebogenen Pfeilspitze, zu einem Loch in der Felswand hochgehievt wurde. Nach einer Weile erreichte der Kadaver den Höhleneingang und wurde hineingezogen.
David schüttelte sich.
»Trolle«, sagte der Förster. »Das erklärt die zweite Brücke.«
Er ging zu den beiden Gebilden. Zwischen ihnen lag eine Steinplatte, in die jemand mühevoll, wenn auch etwas krakelig, eine Inschrift geritzt hatte:
Einer lügt, sobald er spricht,
Einer stets die Wahrheit spricht
Der eine Pfad den Tod dir bringt,
Der andre dir das Leben schenkt.
Eine Frage nur ist dir erlaubt:
Welcher Pfad der richt’ge ist.
»Es ist ein Rätsel«, sagte David.
»Aber was bedeutet es?«, fragte der Förster.
Die Antwort zeigte sich alsbald. David hätte nie gedacht, dass er je einen Troll zu Gesicht bekäme, obwohl sie ihn schon immer fasziniert hatten. In seiner Vorstellung waren sie dunkle Gestalten, die unter Brücken hausten und Reisende auf die Probe stellten, um sie zu verspeisen, falls sie die falsche Antwort gaben. Die beiden Wesen, die jetzt mit brennenden Fackeln in der Hand über
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