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Das Buch der verlorenen Dinge

Das Buch der verlorenen Dinge

Titel: Das Buch der verlorenen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Connolly
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duftet gut, aber es enthält ein übles Gift.«
    Und er erzählte David eine weitere Geschichte.
     
     
    Die zweite Geschichte des Försters
     
    Es waren einmal zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen. Ihr Vater starb, und ihre Mutter heiratete erneut, doch ihr Stiefvater war ein böser Mann. Er hasste die Kinder und hätte sie am liebsten aus dem Haus gejagt. Sein Hass gegen sie wurde noch stärker, als die Ernte verdarb und der Hunger kam, denn sie aßen kostbare Nahrung, die er lieber selbst gegessen hätte. Er verübelte ihnen jeden mageren Bissen, den er ihnen geben musste, und als sein Hunger immer größer wurde, schlug er seiner Frau vor, sie könnten doch die Kinder essen, um nicht Hungers sterben zu müssen, sie könne ja neue Kinder bekommen, sobald die Zeiten wieder besser wären. Seine Frau war entsetzt und hatte Angst, dass ihr neuer Mann den Kindern etwas antun könnte, sobald sie ihm den Rücken zukehrte. Dennoch sah sie ein, dass sie nicht mehr genug zu essen für alle hatten, und so brachte sie sie ganz tief in den Wald hinein und überließ sie dort ihrem Schicksal.
    Die Kinder hatten große Angst, und in der ersten Nacht weinten sie sich in den Schlaf, doch nach einer Weile lernten sie, sich im Wald zurechtzufinden. Das Mädchen war klüger und stärker als ihr Bruder, und so war sie diejenige, die Fallen für kleine Tiere und Vögel aufstellte und Eier aus Nestern stahl. Der Junge ging lieber spazieren oder träumte in den Tag hinein und wartete darauf dass seine Schwester etwas Essbares für sie beide heranschaffte. Er vermisste seine Mutter und wollte zu ihr zurück. An manchen Tagen tat er nichts anderes, als vom Morgen bis zum Abend zu weinen. Ersehnte sich zurück nach seinem alten Leben und versuchte gar nicht erst, sich in das neue hineinzufinden.
    Eines Tages kam er nicht, als seine Schwester nach ihm rief Sie machte sich auf die Suche nach ihm, und damit sie den Weg zu ihrem kleinen Vorrat an Nahrungsmitteln zurückfanden, streute sie eine Fährte aus Blumen hinter sich aus. Nach einer Weile kam sie zum Rand einer Lichtung, und dort erblickte sie ein höchst eigenartiges Haus. Die Mauern waren aus Schokolade und Lebkuchen, das Dach war mit Ziegeln aus Sahnebonbons gedeckt, und die Fensterscheiben bestanden aus durchsichtigem Zucker. Überall in den Mauern waren Mandeln und Karamell und kandierte Früchte eingelassen. Das Ganze sah überaus verlockend aus. Ihr Bruder pflückte gerade Nüsse aus den Mauern, als sie ihn fand, und sein Mund war mit Schokolade beschmiert.
    »Keine Angst, es ist niemand zu Hause«, sagte er. »Probier mal. Es ist köstlich.«
    Er hielt ihr ein Stück Schokolade hin, doch sie nahm es nicht. Die Augen ihres Bruders waren halb geschlossen, so hingerissen war er von dem wunderbaren Geschmack des Hauses. Seine Schwester versuchte, die Tür zu öffnen, doch sie war verschlossen. Sie spähte durchs Fenster, doch die Vorhänge waren zugezogen, sodass sie nichts sehen konnte. Eigentlich wollte sie nichts essen, denn irgendetwas an dem Haus war ihr nicht geheuer, aber der Duft der Schokolade war so verführerisch, dass sie doch ein Eckchen probieren musste. Es schmeckte sogar noch besser, als sie gedacht hatte, und ihr Bauch verlangte nach mehr. So tat sie es ihrem Bruder gleich, und die beiden aßen und aßen, bis sie nicht mehr konnten und in einen tiefen Schlaf sanken.
    Als sie aufwachten, lagen sie nicht mehr auf dem Gras zwischen den Bäumen, sondern in einem Käfig, der im Innern des Hauses an der Decke hing. Eine Frau befeuerte einen Ofen mit Holz. Sie war alt und roch widerlich. Auf dem Boden neben ihr lagen ganze Haufen von Knochen, die Überreste anderer Kinder, die ihr in die Falle gegangen waren.
    »Frisches Fleisch«, flüsterte sie vor sich hin. »Frisches Fleisch für Omas Ofen!«
    Der kleine Junge begann zu weinen, doch seine Schwester legte warnend den Zeigefinger an die Lippen. Die Alte kam zu ihnen und spähte zwischen den Gitterstäben hindurch. Ihr Gesicht war übersät mit dunklen Warzen, und ihre Zähne waren schartig und schief wie alte Grabsteine.
    »Na, wen von euch soll ich denn zuerst nehmen?«, fragte sie.
    Der Junge verbarg sein Gesicht, als ob er dadurch die Aufmerksamkeit der Alten von sich ablenken könne. Doch seine Schwester war mutiger.
    »Nimm mich«, sagte sie. »Ich bin draller als mein Bruder und ergebe einen besseren Braten. Während du mich verspeist, kannst du meinen Bruder mästen, damit du mehr von ihm hast, wenn du ihn

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