Das Buch der verlorenen Dinge
den Rand der Schlucht kletterten, entsprachen allerdings nicht gerade seinen Erwartungen. Sie waren kleiner als der Förster, aber unglaublich breit, und ihre Haut war wie die eines Elefanten, dick und runzlig. Aus ihrem Rücken ragten Knochenplatten wie bei manchen Dinosauriern, aber ihre Gesichter sahen eher aus wie die von Affen – ausgesprochen hässlichen und von übler Akne geplagten Affen, um genau zu sein. Jeder der Trolle postierte sich vor einer der beiden Brücken und lächelte grimmig. Ihre kleinen roten Augen glühten bedrohlich in der hereinbrechenden Dunkelheit.
»Zwei Brücken und zwei Pfade«, sagte David. Er dachte laut nach, merkte es jedoch noch rechtzeitig, bevor er den Trollen etwas verraten konnte, und beschloss, seine Gedanken für sich zu behalten, bis er zu einem Ergebnis gekommen war. Schließlich waren die Trolle ohnehin schon im Vorteil.
Das Rätsel bedeutete ganz klar, dass eine Brücke gefährlich war und in den Tod führte, entweder durch die Harpyen oder durch die Trolle selbst, oder, falls beide nicht schnell genug reagierten, durch den Sturz in die tiefe Schlucht. Genau genommen fand David, dass beide Brücken ziemlich baufällig aussahen, aber er musste davon ausgehen, dass in dem Rätsel eine Wahrheit lag, denn sonst hätte man es sich ebenso gut schenken können.
Einer lügt, sobald er spricht, einer stets die Wahrheit spricht. Das kannte David. Es war ihm schon irgendwo untergekommen, wahrscheinlich in einer Geschichte. Ach ja, natürlich! Der eine konnte nur lügen, der andere nur die Wahrheit sagen. Man durfte also einen der beiden Trolle fragen, welche Brücke die richtige war, aber er – oder sie, David war nicht sicher, ob Trolle männlich oder weiblich waren – sagte möglicherweise nicht die Wahrheit.
Es gab auch eine Lösung dafür, aber David konnte sich nicht daran erinnern. Wie war es nur?
Schließlich verschwand auch der letzte Rest Tageslicht, und aus dem Wald erhob sich ein lautes Geheul. Es klang sehr nah.
»Wir müssen hinüber«, sagte der Förster. »Die Wölfe haben uns aufgespürt.«
»Wir können nicht hinüber, solange wir uns nicht für eine der beiden Brücken entschieden haben«, sagte David. »Ich glaube nicht, dass diese Trolle uns einfach so durchlassen, und wenn wir es mit Gewalt versuchen und die falsche nehmen – «
»Dann brauchen wir uns wegen der Wölfe keine Sorgen mehr zu machen«, beendete der Förster den Satz für ihn.
»Es gibt eine Lösung«, sagte David. »Ich weiß es. Ich muss nur darauf kommen.«
Im Wald knackten Zweige. Die Wölfe kamen immer näher.
»Eine Frage«, murmelte David.
Der Förster packte mit der rechten Hand die Axt und zog mit der linken sein Messer. Er stand zu den Bäumen gewandt, bereit, es mit allem aufzunehmen, was dort aus dem Wald kommen mochte.
»Ich hab’s!«, sagte David. »Glaube ich zumindest«, fügte er leise hinzu.
Er ging auf den linken Troll zu. Er war ein wenig größer als der andere und roch ein wenig besser, was nicht viel besagte.
David holte tief Luft. »Wenn ich den anderen Troll fragen würde, welche die richtige Brücke ist, auf welche würde er dann zeigen?«, fragte er.
Schweigen. Der Troll runzelte die Stirn, sodass einige der Eiterpusteln auf seinem Gesicht aufplatzten. David wusste nicht, wann die Brücke gebaut worden war und wie viele Reisende bereits hier entlanggekommen waren, aber es sah ganz so aus, als hätte der Troll diese Frage noch nie zuvor gehört. Nach einer Weile gab er es auf, Davids Logik verstehen zu wollen, und deutete auf die Brücke hinter sich.
»Es ist die rechte«, sagte David zu dem Förster.
»Wie kannst du dir da so sicher sein?«, fragte der.
»Wenn der Troll, den ich gefragt habe, der Lügner ist, dann muss der andere derjenige sein, der die Wahrheit sagt. Der, der die Wahrheit sagt, würde auf die richtige Brücke zeigen, aber der Lügner würde lügen. Wenn also der Ehrliche auf die rechte Brücke zeigte, würde der Lügner mir sagen, es sei die linke.
Wenn aber der Troll, den ich gefragt habe, derjenige ist, der die Wahrheit sagt, dann ist der andere der Lügner, und er würde auf die falsche Brücke zeigen. In beiden Fällen ist die linke Brücke die falsche.«
Trotz der herannahenden Wölfe, der Gegenwart der verwirrten Trolle und des schrillen Geschreis der Harpyen konnte David sich ein selbstzufriedenes Lächeln nicht verkneifen. Er hatte sich an das Rätsel erinnert, und auch an die Lösung. Es war, wie der Förster gesagt
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