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Das Buch der verlorenen Dinge

Das Buch der verlorenen Dinge

Titel: Das Buch der verlorenen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Connolly
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er plötzlich stehen. David folgte seinem Blick. Direkt über ihnen, auf der Höhe der Baumwipfel, kreiste ein schwarzer Schatten, und David meinte, ein gedämpftes Krächzen zu hören.
    »Verdammt«, zischte der Förster.
    »Was ist das?«, fragte David.
    »Ein Rabe.«
    Der Förster nahm den Bogen von seiner Schulter und legte einen Pfeil auf die Sehne. Er kniete sich hin, spannte die Sehne und schoss. Er hatte gut gezielt. Der Rabe zuckte in der Luft, als der Pfeil seinen Körper durchbohrte, dann stürzte er nicht weit von David zu Boden. Er war tot, die Spitze des Pfeils rot von seinem Blut.
    »Verfluchter Vogel.« Der Förster hob das tote Tier auf und zog den Pfeil aus seinem Körper.
    »Warum hast du ihn getötet?«, fragte David.
    »Rabe und Wolf jagen gemeinsam. Der hier sollte das Rudel zu uns führen. Zur Belohnung hätten sie ihm unsere Augen überlassen.«
    Der Förster blickte in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
    »Sie werden sich jetzt allein auf ihre Nase verlassen müssen, aber sie sind uns mit Sicherheit dicht auf den Fersen. Wir müssen uns beeilen.«
    Sie machten sich wieder auf den Weg, nun jedoch in einem lockeren Trab, als wären sie selbst müde Wölfe am Ende der Jagd, bis sie zum Ende des Waldes kamen, der sich auf eine Hochebene öffnete. Vor ihnen lag eine riesige Schlucht, mehrere Hundert Meter tief und eine Viertelmeile breit. Ein Fluss schlängelte sich wie ein schmales, silbernes Band hindurch, und David hörte etwas, das wie Vogelschreie klang, von den Felswänden widerhallen. Vorsichtig spähte er über den Rand des Abgrunds, um nachzusehen, woher diese Geräusche kamen. Er sah ein Wesen, viel größer als jeder Vogel, den er je zu Gesicht bekommen hatte, durch die Luft gleiten, getragen von den Luftströmungen über der Schlucht. Es hatte nackte, beinahe menschliche Beine, nur die Zehen waren merkwürdig lang und gekrümmt wie Adlerkrallen. Die Arme waren zu den Seiten ausgestreckt, und daran hingen große Hautsegel, die dem Wesen als Flügel dienten. Sein langes, weißes Haar flatterte im Wind, und dann hörte David, wie es anfing zu singen. Seine Stimme war sehr hoch und sehr schön, und die Worte waren klar und deutlich zu verstehen:
     
    Was stürzt, ist gut,
    Ein Biss genügt.
    Im Reich der Brut
    kein Vogel fliegt.
     
    Sein Lied wurde von anderen Stimmen aufgenommen und wiederholt, und David sah, dass ein ganzer Schwarm von diesen Wesen durch die Schlucht glitt. Dasjenige, das ihm am nächsten war, vollführte einen Kreis in der Luft, elegant und seltsam bedrohlich zugleich, und David erspähte seinen nackten Körper. Sofort senkte er peinlich berührt den Blick.
    Das Wesen war von weiblicher Gestalt, zwar alt und mit Schuppen anstelle von Haut, aber eindeutig weiblich. Als er vorsichtiger einen zweiten Blick wagte, sah er, dass das Wesen jetzt in immer kleiner werdenden Kreisen herabglitt, bis es plötzlich die Flügel anlegte und im Sturzflug niederging, direkt auf die Felswand zu, die Krallenfüße vor sich ausgestreckt. Es berührte kurz den Felsen, und als es wieder aufflog, sah David etwas Zappelndes in seinen Krallen. Es war ein kleines braunes Säugetier, kaum größer als ein Eichhörnchen, dessen Pfoten hilflos in der Luft ruderten. Die Jägerin wechselte die Richtung und steuerte unter triumphierendem Gekreische auf einen Vorsprung direkt unterhalb von David zu, um ihre Beute zu verspeisen. Einige ihrer Rivalinnen näherten sich, angelockt von ihren Schreien, in der Hoffnung, ihr die Mahlzeit stehlen zu können. Die Jägerin richtete sich jedoch auf und schlug drohend mit den Flügeln, und so gaben sie es auf. Während die Jägerin ihnen nachblickte, hatte David Gelegenheit, ihr Gesicht zu studieren. Es ähnelte dem einer Frau, war jedoch länger und schmaler, mit einem lippenlosen Mund, der die scharfen Zähne unbedeckt ließ. Diese Zähne bohrten sich jetzt gierig in die Beute und rissen Stücke von blutigem Fell aus dem kleinen Körper.
    »Die Brut«, sagte der Förster, der neben ihm stand. »Noch eine Seuche, die diesen Teil des Königreichs heimsucht.«
    »Harpyen«, sagte David.
    »Du kennst sie? Hast du sie schon mal gesehen?«, fragte der Förster.
    »Nein«, sagte David. »Eigentlich nicht.«
    Aber ich habe von ihnen gelesen. Ich habe sie in meinem Buch mit griechischen Sagen gesehen. Irgendwie habe ich das Gefühl, sie gehören nicht in diese Geschichte, aber trotzdem sind sie da…
    David war flau im Magen. Er trat vom Rand der Schlucht zurück.

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