Das Buch des Kurfürsten: Historischer Roman (German Edition)
eigenen Schritte im Schnee knirschen hörte. Ryss fragte sich, ob es nicht doch klüger gewesen wäre, noch in Heidelberg zu bleiben. Die jungen Männer gestern Abend hatten von einem Tataren erzählt, der morgen in die Stadt einziehen würde. Von nah und fern käme Volk, um das zu sehen. Er hätte womöglich doch gute Geschäfte gemacht, wenn er sich fernab aller Gesetzeshüter hielte? Ach was, sagte er sich, wo viel Volk, da auch viele Aufpasser. Es war besser gewesen, weiterzuziehen. Auch wenn seine Stiefel inzwischen durchnässt waren und seine Hände trotz seiner wollenen Pulswärmer rot gefroren. Er hatte vorhin überlegt, ein Feuer anzuzünden, es aber gelassen. Er wollte nicht so lange verweilen. Wollte zügig vorankommen. Brüste lockten. Vielleicht eine heiße Suppe.
Ryss blieb abrupt stehen. Das Knirschen seiner Schritte verstummte, die plötzliche Stille rauschte in seinen Ohren.
Rauch? War das Rauch, was er da roch?
Endlich ein Gehöft?
Er spähte durch die schwarzbraunen Stämme. Nach links. Nach rechts. Stapfte weiter. Schmunzelte über sich selbst, weil er merkte, dass er sich über Begegnung freuen würde. Keine Seele seit Stunden, der man zumindest ein „Guten Morgen“ hätte zurufen können. Wo waren die Pfälzer denn alle?
Da sah er Spuren, die links vom Pfad Löcher in den Schnee gestanzt hatten. Er blieb stehen und betrachtete sie. Pferdespuren? Ein Hirsch? Er sah in die Richtung, in die sie führten. Sie verliefen sich im Unterholz. Ob dort eine Ansiedlung lag? Er drehte den Kopf und sah auf den Pfad, den er weitergehen würde. So oder so nur Wald weit und breit. Ob er es hier versuchen sollte?
Und dann, eindeutig: Rauchgeruch. Ganz sicher. Ein warmes Herdfeuer. Die steifen Glieder aufwärmen. Ein Becher heißer Würzwein vielleicht. Seine Füße liefen von selbst, wadentief sank er im Schnee ein.
Nach einigen Minuten blieb er erneut stehen. Ein Kind schrie. Ein sehr kleines Kind, ein Säugling noch.
Also lebte dort wirklich wer.
Munter stapfte er voran.
O’r argol
, das Kind schrie sich ja die Seele aus dem Leib! Es wollte sich gar nicht beruhigen. Jetzt zeterte auch noch ein Weib. Und dazu eine Männerstimme, die zornig Befehle spie. Herrje, in einen Zwist mochte er nicht hineingeraten. Das war selten ratsam. Besser man mischte sich nicht in die Belange anderer Leute ein.
Da verstummte das Schreien.
Kurz darauf erspähte er eine Hütte. Aufgetaucht aus dem Nichts. Sie war schwer auszumachen. Eingezwängt zwischen Stämmen und Büschen, windschief und winzig. Ryss blieb stehen. Er äugte hinüber. Männerstimmen drangen heraus. Und das Kind hob wieder zu greinen an. Er verharrte. Das Reisen hatte ihn vorsichtig gemacht. Man war besser auf der Hut. Umkehren? Aber eine warme Suppe … Die Tür schepperte mit dumpfem Knirschen auf, zwei Männer kamen heraus.
Ryss handelte unwillkürlich. In der Sekunde, da er begriff, dass sie einen Toten zwischen sich schleppten, machte er einen Satz hinter den nächsten Baumstamm. Er erfasste noch die Gleichzeitigkeit, mit der alles geschah, bevor er sich für seine Ungeschicktheit verfluchte: Seine Bewegung war zu rasch gewesen, es knackte und knarzte, als er umknickte, das Gleichgewicht verlor, stürzte und heiser aufschrie, weil ihm die Kanten seines Kastens in die Rippen stachen. Schnee rieselte auf ihn herab, die Männer ruckten die Köpfe in seine Richtung. Sie ließen den Toten fallen wie einen Mehlsack und stürmten mit grimmiger Entschlossenheit auf ihn zu.
„Dass dich der Teufel schände, was ist da drin?“
Der mit der roten Nase und der dünnen Stimme kniete neben seinem Rucksack und hielt ihm das bauchige Fläschchen aus grünem Waldglas hin. Der zweite Mann, der gepflegter aussah, stand daneben und ließ ihn nicht aus den Augen.
Ryss lag am Boden, eine Körperlänge von der offenen Feuerstelle entfernt. Er bewegte die Arme, die man ihm auf dem Rücken gebunden hatte, und verzog missfällig das Gesicht. „Getrocknete Mausköpfe“, antwortete er gleichmütig und hoffte, dass man nicht hörte, dass ihm das Herz im Halse schlug. Er verwünschte seine Tölpelhaftigheit. Ließ sich von diesen beiden Kalbsköpfen gefangen nehmen. Mit Genugtuung sah er zu, wie Rotnase das Glas von sich weg hielt und ungläubig darauf starrte, wobei er die schräg stehenden Augen zusammenkniff, dass die Haut der Unterlider schmale Wulste warf. Er sah grobschlächtig aus. Rote strähnige Borsten wie ein Ire, die dazu passende rote Knollennase,
Weitere Kostenlose Bücher