Das Buch des Kurfürsten: Historischer Roman (German Edition)
schon hatte es ein kleines Loch. Gierig saugte sie es aus. Er tat es ihr nach. Rasch waren sechs Eier auf diese Weise vertilgt. Hedwig nahm eine Möhre, an der noch Erde klebte, wischte sie ab und biss hinein. Es war die köstlichste Möhre, die sie je gegessen hatte. Ryss nahm sich ebenfalls eine. Er schmunzelte. „
Master
“, sagte er, sah sie kurz an, beobachtete dann die knisternden Scheite.
Hedwig spürte, wie sie errötete. Sie hatte diese Form der Anrede im Belierschen Haus von Kaufleuten aus England gehört. Seit sie wusste, dass er von dort kam, hatte sie sich vorgenommen, ihn so anzureden, um ihm zu zeigen, dass sie sich auskannte. Das belustigte Zucken um seine Mundwinkel zeigte ihr indes, dass er ihre Prahlerei durchschaut hatte. Sie schämte sich.
„Mein Brotherr ist angesehener Kaufmann, Kaufleute aus England gehen dort ebenso ein und aus wie solche aus Polen, Flandern und Italien!“, erwiderte sie trotzig.
Das belustigte Grinsen wich nicht.
„Im Übrigen kennt Ihr dieses Haus“, eilte sie sich hinzuzufügen, um abzulenken. „Ich sah Euch schon einmal.“
Ha, nun schaute er fragend!
„Vor zwei Tagen habt Ihr im Hause Belier vorgesprochen. Ich kam hinzu, als Ihr unseren Lehrjungen und den Knecht vollgeschwätzt habt.“
Schon schmunzelte er erneut, nickte wie in unbestimmter Erinnerung.
„Ihr erkennt mich nicht wieder, nicht wahr? Obwohl Ihr sagtet, ich sei hold wie die aufgehende Sonne.“
Vermaledeit, das war ihr so herausgerutscht! Man ließ doch einen solch losen Vogel nicht wissen, dass man sich seine Schmeichelei gemerkt hatte!
„Nun, Maid Hedwig, das seid Ihr.“
„Spart es Euch. Das sagt Ihr zu jeder.“
„Nun, ich, nein …“ Er griff den Saum seines Umhangs als Schutz, um sich die Finger nicht zu verbrennen, und rückte die Steine um die Feuerstelle zurecht. Er hob den Kopf und sah ihr geradewegs in die Augen. Der schwache Feuerschein machte die seinen noch dunkler glänzen. „Ihr seid hold und könnt sein glücklich. Ihr habt Arbeit in einem wohlhabenden Haus und immer Essen. Ihr habt eine Tochter, einen Ehemann und sicher Familie und Freunde. Das ist mehr, als viele können von sich sagen.“
Hedwig schluckte, seltsam berührt, und sah in die Flämmchen. Er hatte das mit einem so tiefen Ernst gesagt, fast meinte sie, mit Wehmut in der Stimme, dass sie sich unwillkürlich fragte, weshalb er wohl aus seinem Land fortgegangen war, wo er dort doch sicher ebenfalls Familie hatte. Oder was er unterwegs wohl erlebt haben mochte. Aber natürlich wagte sie nicht, ihn zu fragen. Er reichte ihr zwei weitere Möhren und sagte: „Esst!“ Leise bedankte sie sich. Er selbst nahm ebenfalls eine. Sie kauten und schauten auf das brennende Holz.
Hedwig dachte, dass er wohl recht hatte, mit dem, was er sagte. Zum Haus einer solch angesehenen Familie wie der der Beliers zu gehören, brachte ihr Ehre ein. Sie hatte durchgesetzt, den Mann zu heiraten, den sie liebte, ihre Tochter war gesund und lebte, sie hatten ihr Auskommen und ein Dach über dem Kopf. Ihre Eltern waren ehrbare Leute – die sie plötzlich ebenso vermisste wie Michel, ihren jüngeren Bruder, oder ihre Großmutter. Sie sah ihren Vater vor sich, in dessen dunkelbraunes Haar sich erste graue Fäden mischten, sie hörte Mutters warmen Tonfall – und spürte so tief den Wunsch nach ihrem Schutz und Schirm, dass sie die Möhre sinken ließ und mit Kauen innehielt. War es der eindringliche Ton in Ryss’ Worten, der Widerschein des Feuers in seinen Augen, die dieses Tor zu ihrer Betrübnis geöffnet hatten? Sie schluckte das zerkaute Gemüse hinunter und starrte in die Flämmchen. Da spürte sie ein Streicheln am Handrücken, sah ihn an.
Ryss deutete auf ihre Möhre. Sie biss hinein und sagte mit vollem Mund: „Ich vermisse meine Eltern. Und ich hätte es nicht gedacht, aber das Ausfegen, das Staubwischen, es fehlt mir ebenso. All das geschäftige Tun in dem großen Haus. Aber am meisten fehlen mir die Stimmen. Appels Lachen. Herr Beliers lustig klingende Sätze, wenn er das H verschluckt, weil er es nicht aussprechen kann. Sogar Madames Anordnungen zu Fleiß und Sparsamkeit.“ Sie starrte die Möhre an. „Und Philipps …“ Sie hielt inne und sah auf.
Ryss nickte unmerklich.
Da regte sich Juli.
Sofort beugte Hedwig sich über sie. Juli verzog das Gesicht, schmatzte, und als sie ihre Stimme hörte, quäkte sie und öffnete die Augen.
Sie nahm ihre Tochter auf. Juli stank. Aber was erwartete sie, sie selbst roch
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