Das Buch des Kurfürsten: Historischer Roman (German Edition)
vorsichtig an der Felswand entlang, bis sie an eine Stelle kam, an der gelb verfärbter Schnee ihr zeigte, dass auch er hier sein Wasser abgeschlagen hatte. Sie ging in die Hocke, tat das Gleiche und dachte, dass sie rasch aufbrechen sollten.
Als sie in die Höhle zurückkehrte, roch sie den würzig-schweren Duft besonders stark. Jetzt sah sie auch, woher er rührte: Neben Ryss stand ein winziges Räucheröfchen aus Ton, kaum vier Zoll groß. Es ähnelte der Form eines weiblichen Körpers. Über drei kleinen Luftlöchern verschmälerte es sich und verbreiterte sich nach oben hin wieder. Auf dem Siebeinsatz verräucherten Kräuter, durch die drei Löchlein schimmerte Feuerschein.
„Ihr seid ja schon recht umtriebig. Was verbrennt Ihr da?“
Ryss, der sein Gesicht in die Länge zog und ein O machte, um sich besser abscheren zu können, hob den Blick. Er sagte nichts, sah sie an und fuhr mit seinem Tun fort. Schließlich tauchte er das Messer in den Tiegel und folgte seiner Bewegung mit den Augen. „Rezept aus dem alten Ägypten. Mehr als 2000 Jahre alt“, sagte er und rieb das Messer an seinem Mantel trocken. Er legte es weg und sah sie an. „Wacholderbeeren, Olibanum, Rosenblätter. Und anderes. Vertreibt Sorgen und mäßigt Aufregung. Und Myrrhe bringt uns Schutz. Können wir brauchen. Hier, nehmt.“ Er reichte ihr den Trinkschlauch. „Aufguss aus Salbei, Johanniskraut.“ Er deutete mit dem Schlauch auf Juli. „Ich gab ihr davon, sie trank es. Sie hat das Mundstück. Ist noch warm, nehmt also.“
Einmal mehr bass erstaunt griff Hedwig den Schlauch. Sie sah zu Juli, die das Mundstück vollgeiferte. Dann sah sie wieder Ryss an und fragte: „Schlaft Ihr eigentlich auch jemals?“
„Zuweilen.“
Sie setzte sich, streichelte Julis Bauch und sprach zu ihr. Juli lächelte und zappelte mit den Beinchen. Dann nahm sie einen Schluck von dem lauwarmen Kräuteraufguss. Er schmeckte bitter. Johanniskraut hatte er hineingetan? Das war gut für Wunden und jene weichen Teile im Leib, die wehtaten, weil man sie überanstrengt hatte. Wie umsichtig von ihm. Vom Gehen taten ihr die Beine weh, Nacken und Rücken schmerzten vom Tragen der Lasten sowie vom schiefen Liegen auf kaltem Boden. Ganz abgesehen von allem anderen, was zerschrammt und zerkratzt war. Sie nahm einen weiteren Schluck, obwohl die Lederhaut des Schlauches schlecht schmeckte. Aber sie wollte Juli ihr Spielzeug nicht wegnehmen. Die würde sicher ohnehin bald nach Fütterung schreien, Kräuteraufguss hin oder her. Aber dass er sich um Juli gekümmert hatte. Sie äugte zu ihm hin. Er sortierte in seinem Haufen herum.
„Gestern sagtet Ihr, es sei Tribut des Wandernden, dass Ihr nicht gut schlafen könnt. Was meintet Ihr damit?“, sagte sie zu seinem Rücken. Es war ihr aufgefallen, dass der Schlaf immer wieder Gegenstand seiner Überlegungen war.
Wieder antwortete er nicht sofort. Als er es dann tat, drehte er sich nicht zu ihr um. „Immerwährend auf der Hut sein ist abträglich dem Schlaf“, hörte sie ihn sagen.
Wieder dieser wehmütige Ton, der sie wie gestern schon daran denken ließ, dass es einem wie ihm auf den Straßen sicher nicht gut erging. Sie wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Sie dachte an jene besonders tiefe Aufmerksamkeit, die sie an ihm kennengelernt hatte. Sicher hatte er sich die aus gleichem Grund angeeignet. Hedwig fragte sich erneut, warum er wohl von zu Hause fortgegangen war. Sie legte den Schlauch beiseite und nahm Juli auf, die zu murren begonnen hatte. Setzte sich ebenfalls mit dem Rücken zu ihm hin und begann, ihr Kind zu stillen. Sie hörte ihn rascheln und tun, hörte ihn mit Holzkasten und Steingut hantieren. Dann trat er heran, stellte den kleinen Mörser wortlos neben sie und ging hinaus. Er hatte erneut eine Schlafpille zerstoßen, damit sie Juli davon gab. Etwas an diesem schweigsamen Geheiß kränkte sie. Er hätte wenigstens mit ihr darüber reden können! Sie merkte, dass seine Verschlossenheit ihr etwas ausmachte. Und sie ärgerte sich darüber. Unwillig stieß sie den Finger in das Pulver und steckte ihn Juli in den Mund.
Als er zurückkehrte, schlummerte ihre Tochter bereits. Er warf einen Armvoll Ästchen ab, verschwand dann in den hinteren Höhlenteil. Mit dem großen Lederbuch kam er aus der Nebenhöhle. Sie hatte also richtig vermutet: Er hatte es dort versteckt. Er legte es neben seinen Rucksack, ging in die Hocke und gab Holz aufs Feuer. „Ich habe nachgedacht“, sagte er mit Blick auf sein
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