Das Buch des Kurfürsten: Historischer Roman (German Edition)
regelmäßigen Zügen. Sie setzte sich ebenfalls. Sofort spürte sie die Kälte des Steins am Gesäß. Sie hatte es so satt. Sie sehnte sich nach Behaglichkeit, nach heißer Suppe. Sie wollte ihre kalten Füße in einen Bottich dampfenden Wassers stecken und nicht eher herausnehmen, bis sie kätzelwarm waren. Wie sollte es nun weitergehen? Würde Ryss wahr machen, was er gesagt hatte, und sie bei den Bauern abgeben, als wäre sie eine unliebsame Botschaft, die er zu überbringen hatte? Oder ließ er sich umstimmen und geleitete sie weiterhin? Sie wusste mit einem Mal nicht mehr, was ihr lieber wäre. Sie wusste gar nichts mehr. Außer dass sie so schnell wie möglich bei Philipp sein wollte. Beim Gedanken an Philipp spürte sie erneut Tränen steigen, und sie schluckte sie hinunter, damit sie ja nicht von Neuem allen Verstand davonschwemmten. Den brauchte sie jetzt. Nachdenken. Angenommen, er kam bis zum Gehöft mit und ging hernach seiner Wege. Sie würde ein rasches „Lebt wohl“ murmeln und sodann auf das Haus zugehen. Sie spürte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg. Was sollte sie dort sagen? Dass sie sich verlaufen habe? Auf dem Weg von wo nach wo? Und von wem zu wem? War es besser, sie sagte die Wahrheit? Dass man sie entführte und gefangen hielt? Dass sie entkommen konnte, nun dringlichst zurück nach Heidelberg müsse und dazu der Hilfe bedürfe? Würde man ihr glauben? Würde man ihr helfen? Sie fühlte sich derart unsicher, dass sie daran zweifelte, das gleiche Mädchen zu sein, das ohne zu zögern Ausflüchte und Antworten für Mutter bereitgehabt hatte, wenn es sich heimlich mit Philipp traf. Noch vor einem Jahr, im Oktober zur Reilinger Kerwe, hatte sie vor den Eltern verborgen, dass Philipp gekommen war. Als sie sich in der Lusshardt endlich wieder in den Armen gelegen hatten, eröffnete Philipp ihr, dass er die Wohnung gemietet hatte und schon einen Monat darin wohnte. Angelächelt hatten sie sich, weil sie wussten, dass sie soeben ihr Kind gezeugt hatten, welches ihr Vorhaben zu heiraten nötigenfalls unterstützen würde. Im Januar hatte ein Brief von Philipp die frohe Botschaft gebracht, dass sie im Hause des Tuchhändlers arbeiten könne. Erst da hatten sie die Eltern davon in Kenntnis gesetzt, dass sie in gesegneten Umständen war und mit Philipp leben würde. Dass sie in einem Haus arbeiten würde, das mit dem Kurfürsten höchstselbst in Verbindung stand. Dessen Zusprache war es zu danken, dass sie als verheiratetes Weib dort Anstellung finden würde, noch dazu schon gleich im Februar und nicht erst an Georgi, wenn Mägde und Knechte ihre Stellen wechselten. Trotziger Stolz hatte aus ihren Worten gesprochen. Jetzt, da sie daran dachte, fühlte sie leise Reue wegen ihres triumphierenden Gebarens von damals. Sie sah Vaters Miene vor sich, als er auf ihre Enthüllungen hin lediglich gesagt hatte: „Gleich morgen also ist das Eheverlöbnis kundzutun.“ Dann hatte er sich abgewandt. Damals hatte sie gedacht, es geschähe ihm recht, sich zu grämen, immerhin hatte er ihnen eine zweijährige Wartezeit auferlegt. Sie hatte all das durchgestanden – und nun wusste sie nicht, was sie dem Bauern sagen sollte? Oder irgendwem, auf dessen Hilfe sie bauen wollte. Oder ob sie Ryss’ Geleit weiterhin wünschen sollte oder nicht. Sie fühlte sich klein, hilflos und unsicher und ganz und gar nicht wie das willensstarke Weib, das sie sein wollte. Jetzt war sie Spielball der Ereignisse, erst der Launen dieser grässlichen Männer, nun jener von Ryss. Sie würde dies nicht länger hinnehmen. Zu sehr hatte sie gekämpft und sich Ehre erworben. Sie würde diesem Herzlosen sagen, dass er nur so lange mit ihr gehen sollte, bis sie wen fänden, der sie mit in die Stadt nähme. Es
musste
doch irgendwer in Geschäften nach Heidelberg unterwegs sein! Sie holte Luft und setzte zum Sprechen an.
„Wollt Ihr einmal schauen“, sagte Ryss anerbietend.
Überrascht sah sie zu ihm hin. Sie war so in ihre eigenen Gedanken verstrickt gewesen.
Er hielt ihr sein aufgeschlagenes Buch hin, und sie ergriff es, ertastete die gefurchte Beschaffenheit des schwarzen Ledereinbands, des dicken, rauen, sandfarbenen Papiers. Verständnislos starrte sie auf die Wörter, die er an den rechten Rand der rechten Seite geschrieben hatte.
unseres Herren Liechenams
hatten die Burg und Burg
zugehorungen item Gaßbach
und Brackheim mit
myn Herre einen Brief
hat er einen viertel
hofen mit seiner zugehorde zu mannlehen
Ryss stand auf, setzte
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