Das Buch des Vergessens
werden. Und der wichtigste Unterschied: Das Gedächtnis ist endlich. Ein Archiv löst sich nicht von einem Moment zum nächsten im Nichts auf, wenn derjenige, der es angelegt hat, stirbt.
So kennzeichnet sich auch das Verhältnis zwischen Gedächtnis und Archiv auf den ersten Blick durch Gegensätze: Erinnerungen sind flexibel, korrekturanfällig, befristet, Archivakten haben eine gewisse Permanenz, können so zurückgestellt werden, wie sie zum Vorschein kamen, überleben Generationen, verändern sich nicht mit der Zeit. Man könnte fast sagen: Was aus dem Gedächtnis zum Vorschein kommt, ist subjektiv, was aus dem Archiv kommt, ist objektiv. Aber leider, auch dieser Gegensatz zwischen Gedächtnis und Archiv ist bequem.
Harmonia caelestis
»Ich habe den Krieg nicht mitgemacht«, schrieb Harry Mulisch einst, »ich bin der Zweite Weltkrieg.«
Anmerkung
Mit einer jüdischen Großmutter, die in Sobibor vergast wurde, einer jüdischen Mutter, die untertauchen musste, und einem deutschen Vater, der im Dienst der gefürchteten ›Raubbank‹ Lippmann-Rosenthal stand, konnte Mulisch ein Wörtchen mitreden: In seiner Person vereinigten sich die wichtigsten Themen des Zweiten Weltkriegs.
Péter Esterházy
Sein ungarischer Kollege Péter Esterházy, geboren 1950, könnte ebenfalls mit Fug und Recht behaupten: »Ich bin Ungarn.« In ihm und seiner Familie kommen fünf Jahrhunderte ungarische Geschichte zusammen. Esterházy studierte Mathematik und arbeitete für kurze Zeit als Systemanalytiker, festigte jedoch schnell seinen Namen als Romancier und Essayist. Im Jahr 2000 veröffentlichte er Harmonia Caelestis, einen Roman, an dem er fast zehn Jahre gearbeitet hatte.
Anmerkung
Harmonia Caelestis ist vieles zugleich. Es besteht aus zwei ›Büchern‹. Buch I ist eine wirbelnde Chronik des Geschlechts Esterházy und führt an Pfalzgrafen und Kurfürsten vorbei, Prinzen und Baronen, Bischöfen und Kanzlern, von Esterházy einer nach dem anderen als ›mein Vater‹ bezeichnet. Die Esterházys waren Großgrundbesitzer eines fast nicht zu berechnenden Ausmaßes an Boden, von Péter manchmal abwinkend angegeben als ›ein Viertel von Ungarn‹
Anmerkung
. Jeder dieser ›Väter‹ besaß Ländereien, »die nicht einmal die Wildgänse in einer Nacht zu überqueren vermögen«
Anmerkung
. Dieser Reichtum war vor allem im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert gebildet worden.
Die römisch-katholischen Esterházys bekamen während der Gegenreformation viel Land, das man Protestanten weggenommen hatte. Als sie sich im Kampf gegen die Türken auf die Seite der Habsburger stellten, wurden sie mit Adelstiteln und ausgedehnten Landgütern belohnt. Die Loyalität der Esterházys gegenüber den Habsburgern kann buchstäblich in Jahrhunderten gemessen werden.1683 war es Graf Paul Esterházy (1635 –1713), der zur Hilfe eilte, als Wien von den Türken belagert wurde. 1809 führte Prinz Nicolaas II (1765 –1833) ein Regiment von Freiwilligen an, um Wien von den französischen Truppen zu befreien. Napoleons Angebot, sich zum König eines selbstständigen Ungarns krönen zu lassen, schlug er aus. Von Generation zu Generation haben die Esterházys immer wieder die vortrefflichsten Künstler, Architekten und Handwerker für den Bau und die Einrichtung ihrer Burgen, Kastelle, Jagdschlösser, Sommersitze, Residenzen und Stadtpaläste eingestellt.
Anmerkung
›Vater‹ Miklós Esterházy (1583 –1645) heiratete reich, sogar zwei Mal, und wurde 1625 zum Pfalzgrafen gewählt, der höchsten politischen Position im damaligen Ungarn. Aber die berühmtesten ›Väter‹ sind vielleicht doch die Fürsten Paul Anton (1711–1762) und Miklós Esterházy (1714 –1790) gewesen. Paul Anton nahm 1761 den neunundzwanzigjährigen Joseph Haydn als Vizekapellmeister in Dienst. Er übertrug ihm die Verantwortung für das Hoforchester, den Musikunterricht und die Bibliothek, aber Haydns wesentlichste Aufgabe lag in der Komposition von Musikstücken, auch für Paul Anton selbst, der lobenswert verschiedene Streichinstrumente spielte. Nach dem Tod Paul Antons übernahm sein Bruder Miklós das Mäzenatentum. Für ihn komponierte Haydn im Herbst 1771 die berühmte Abschiedssymphonie. Die Mitglieder des Hoforchesters, die während der Sommersaison getrennt von ihren Familien auf Schloss Esterházy in Eisenstadt wohnten, hatten schon seit einigen Wochen vergebens auf den Moment gewartet, dass Esterházy die Sommersaison für beendet erklären würde. Die
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