Das Buch des Vergessens
Volksrepublik wurde ausgerufen, die 1919 unter Béla Kun in eine Räterepublik überging. Es folgten groß angelegte Enteignungen, aber diese wurden später rückgängig gemacht. Der Wechsel zur Republik ließ den Besitz der Esterházys noch größtenteils unangetastet. Das sollte sich im und nach dem Zweiten Weltkrieg ändern. Ungarn wurde 1944 von deutschen Truppen besetzt. Nachdem die Rote Armee im Februar 1945 Budapest erobert hatte, blieb das Land unter russischer Einflusssphäre. 1948 folgten erneut Enteignungen, und diesmal waren sie definitiv. Péters Großvater, Graf Móric Esterházy, ein ehemaliger Ministerpräsident, durfte wegen seiner antideutschen Haltung während des Krieges noch ein paar Morgen Land behalten, aber darüber hinaus fielen alle Schlösser, Paläste, Ländereien, Kunstsammlungen, Bibliotheken und sonstigen Vermögen demStaat zu. Alle Privilegien wurden entzogen, Titel abgeschafft. Péters Vater, Mátyás Esterházy, geboren 1919 und als Erbfolger einer der reichsten Männer Ungarns, wurde nach dem Krieg vom Grafen zum besitzlosen ›Klassenfeind‹, Spross eines jahrhundertealten Geschlechts von Klassenfeinden. In Buch II beschreibt Péter, wie die Esterházys diesen Wandel ihres Schicksals verarbeitet haben.
Harmonia Caelestis nimmt hier eine tragische Wendung, behält aber seinen spielerischen Ton. Es gibt eine geistreiche Beschreibung eines historischen Treffens 1917 zwischen Péters Großvater, dem Premier, und dem deutschen Kaiser Wilhelm II.: »Der Kaiser kritisierte mehrere ungarische und österreichische innere Angelegenheiten. Er hatte mit keinen, ich mit Letzteren nichts zu tun. Ich dies mitgeteilt. Er blickte mich so scharf an, dass ich fast gelacht hätte.«
Anmerkung
Der gereizte Dialog geht noch ein paar Seiten weiter, bis Péter Esterházy schmunzelnd abschließt: Ashmed Bartlett, ein englischer Journalist, beschreibt in seinem Buch The Tragedy of Europe diese Audienz ganz falsch.
Anmerkung
Auch Esterházys Geschichten über die Abwicklung von Enteignungen und Beschlagnahmungen sind tragikomisch: In erfundenen Dialogen porträtiert er die kommunistischen Volkskommissare als einfältig und fanatisch, bar jeglichen Gefühls für Tradition und Geschichte, gedächtnislos, in keinerlei Hinsicht eine Partie für die Esterházys. Großvater Móric war der Erste, der es mit dem neuen Regime zu tun bekam, und Péter beschreibt mit Stolz, mit welcher Haltung sein Großvater auf die Umwälzungen reagierte, er war das Musterbeispiel eines Aristokraten, Adel von innen heraus: »Es wäre jedenfalls schwer gewesen, von unten her auf ihn herabzuschauen.«
Anmerkung
Aber Buch II von Harmonia Caelestis ist vor allem ein Denkmal für Mátyás Esterházy, den einzigen Vater zwischen all diesen ›Vätern‹. Nach dem Krieg gestattete man Mátyás noch, sich in Budapest niederzulassen, wo er mit Lily Mányoky eine Familie gründete. 1951 folgte die Deportation nach Hort, wo sich die Esterházys einschließlich Großvater bei einer Bauernfamilie einquartieren mussten. Vater Mátyás wurde als Landarbeiter in der Melonenernte eingesetzt und später als Straßenarbeiter.
Manchmal, wenn er in der Nähe arbeitete, passten wir ihn mit meinem Bruder (unerlaubt) ab. Wir waren so stolz auf ihn, wie er halb nackt den Asphalt glättete, über seinen Körper krochen dunkle Schmutzstreifen, von Zeit zu Zeit brüllte jemand neben ihm los: Graf, verdammte Scheiße, versau’s nicht schon wieder!, sein Rücken, sein Kreuz glänzten vor Schweiß, ebenso seine Stirn, er wischte sich mit dem Unterarm darüber, richtete seine Brille, ein halb nackter Professor, die Klugheit war ihm anzusehen.
Anmerkung
Stolz – das ist in Péters Beschreibungen von Mátyás der Untertext. Bei seinen Arbeiten in niedrigen Beschäftigungsverhältnissen, wie Hilfsparkettleger im Dienst ehemaliger Unterstellter, behielt Mátyás seine Würde. In Péters Augen benahm er sich wie jemand, der demonstrierte, was geistiger Adel bedeutete. Nie hörten ihn die Kinder über den früheren Wohlstand der Familie sprechen, auch wenn es für einen in Ungarn aufwachsenden Péter Esterházy unmöglich war, dieser Vergangenheit zu entkommen. Auf der Grundschule erhält er Unterricht von den gestählten Kadern, die beleidigt über Kapitalismus, Ausbeutung, Großgrundbesitz, feudale Herrscher und was nicht alles schimpfen. Während einer Schulreise zeigt die Lehrerin empört auf eines der ehemaligen Esterházy-Schlösser: »Hier seht ihr ein
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