Das Buch des Vergessens
verfeinertes organisches Instrument wie das menschliche Gehirn das dann nichtkönnen? Schließlich ist bekannt, dass Erinnerungen in den Verbindungen zwischen Gehirnzellen gespeichert werden, und bei einer geschätzten Gehirnzellenzahl von 100 Milliarden ist die Anzahl der Verbindungen so astronomisch hoch, dass in einem einzigen Gehirn auch Platz für die Erfahrungen vieler Leben sein müsste. Letzteres ist wahr: Das Gedächtnis kann nie ›voll‹ werden. Aber es ist dieselbe Speicherung im Gehirngewebe, die ebenjene Theorie vom absoluten Gedächtnis so unwahrscheinlich macht. Pro Tag verliert man durchschnittlich knapp einhunderttausend Zellen, etwa 30 Millionen pro Jahr. Auch Hirngewebe entkommt Verfall und Atrophie nicht. Ein Gehirn ist kein Mechanismus, sondern ein Organ. Es besteht aus sich ständig ändernden Netzwerken und Kreisen, moduliert von chemischen Prozessen, es kennt Tag- und Nachtrhythmen, Wachsamkeit und Ruhe, Wechsel in Hormonspiegeln, Zyklen aus Wachstum und Absterben – kurzum: Das Gehirn hat mehr Ähnlichkeit mit einem dunstigen, tröpfelnden Stück Regenwald als mit der Festplatte eines Computers. Gedächtnisspuren sind nicht steril und dauerhaft konserviert wie Informationen in künstlichen Gedächtnissen, die wir selbst erfunden haben, sie unterliegen neuronaler Verrottung und Überwucherung.
Der Glaube an ein absolutes Gedächtnis entstand auch nicht erst nach der Erfindung von Tonbandgeräten oder Videokameras. Freud und Korsakow spielten schon vor der Erfindung des Films darauf an und bedienten sich ganz anderer Metaphern. Wer die Geschichte des absoluten Gedächtnisses im Krebsgang verfolgt, landet schnell bei Magnetiseuren, Hypnotiseuren und Spiritisten, die behaupteten, jemand habe während einer Trance Zugang zu Erinnerungen, die für das wache Bewusstsein nicht mehr zu erreichen sind und daher ›vergessen‹ scheinen.
Anmerkung
Dies würde beweisen, dass nichts verloren geht. Und wer noch weiter zurückgeht, landet in der Romantik, in der Dichter und Philosophen dem Gedanken vom menschlichen Geist als unermessliches Reservoir von Eindrücken Ausdruck verliehen haben.
Als Loftus und Loftus 1980 feststellten, dass 84 Prozent der psychologisch geschulten Befragten dachten, unser Gehirn speichere alles dauerhaft, war die Studie von Gloor und seinen Kollegen nochnicht erschienen. Aber aus neueren Umfragen wird deutlich, dass es eine beliebte Theorie geblieben ist. Noch fast vier von zehn Menschen glauben an diese Version des absoluten Gedächtnisses.
Anmerkung
Und in einer Umfrage unter Psychotherapeuten zeigte sich, dass rund die Hälfte von ihnen der Ansicht ist, mit Hypnose Zugang zu diesen Spuren zu erhalten, zur Not zurück bis zur Geburt.
Anmerkung
Weshalb diese Hartnäckigkeit? Was macht den Gedanken, dass unser Gehirn alles speichert, was sich je in unserem Bewusstsein befunden hat, so attraktiv?
Ein Teil der Antwort wird sein, dass wir selbst so unsere Erfahrungen mit ›vergessenen Erinnerungen‹ haben. Man kann in der Überzeugung aufwachen, nicht geträumt zu haben, und später am Tag etwas sehen oder hören, das auf einmal den ›vergessenen‹ Traum wieder zurückbringt. Es kann einem sogar passieren, dass man sicher ist, etwas nicht mehr zu wissen – wie die Leute hießen, die neben einem wohnten, als man fünf war –, und eine Woche später sieht man genau diesen Namen hinten auf einem Lastwagen und erkennt ihn augenblicklich als den ›vergessenen‹. Ältere Menschen können bezeugen, dass sie sich auf einmal wieder an Dinge erinnern vom Typ ›fünfzig Jahre nicht daran gedacht‹. Und was Freud über Tagesreste in Träumen schrieb, ist tatsächlich eine vertraute Erfahrung: Oft sind es vollkommen triviale Ereignisse, die anscheinend doch festgehalten wurden. Es ist, kurz gesagt, recht heikel, mit absoluter Sicherheit zu behaupten, etwas befinde sich nicht im eigenen Gedächtnis. Es kann immer, über Assoziationen, die man jetzt noch nicht zur Verfügung hat, ins Bewusstsein zurückkehren.
Aber nicht beweisen zu können, dass etwas definitiv weg ist, ist noch kein Beweis, dass alles noch da ist. Es verleiht Diskussionen mit Anhängern der Theorie, das Gehirn halte alles fest, manchmal einen etwas mühsamen Charakter, weil sie annehmen, dass eine Theorie, die nicht zu widerlegen ist, dann wohl stimmen wird. Das ist ein kleiner, aber fataler Schritt aus der logischen Kette hinaus. Eine Theorie, die schon im Vorhinein gegen ihre Widerlegung immun ist, lässt sich
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