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Das Buch des Vergessens

Das Buch des Vergessens

Titel: Das Buch des Vergessens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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Musiker baten Haydn, dem zögerlichen Fürsten mit höchstem Taktgefühl zu verstehen zu geben, dass sie gern wieder zu ihren Familien zurückkehren würden. Haydn schrieb daraufhin eine Symphonie, in der die Orchestermitglieder gegen Ende einer nach dem anderen aufstehen, die Kerze an ihrem Ständer ausblasen und leise die Bühne verlassen. Bei der Aufführung für Miklós blieben am Ende nur noch zwei Musiker übrig, der erste Violinist Tomasini und Haydn selbst. Miklós verstand die Botschaft und versprach seinen Musikern baldigen Urlaub. Die Fürsten Paul Anton und Miklós waren nicht die ersten Esterházys mit musikalischen Talenten. Prinz Paul Esterházy (1635   –1713) gilt als der wichtigste ungarische Komponist des siebzehnten Jahrhunderts. Von ihm erschien 1711 auch schon ein Harmonia Caelestis, eine Sammlung religiöser Gesänge.
    All diese ›Väter‹ von Péter Esterházy haben an der vaterländischen Geschichte mitgeschrieben. Sie bekamen es mit der Reformation und der Gegenreformation zu tun, mit dem delikaten Spiel strategischer Eheschließungen, sie waren Feldherren während der Kriege und Gesandte in der Diplomatie, sie beteiligten sich an Verschwörungen oder fielen ihnen zum Opfer, sie diktierten Verträge und nahmen Petitionen in Empfang, sie verloren Söhne im Kampf gegen die Türken und tanzten am Wiener Hof, sie reisten als kaiserliche Boten in den Vatikan und veranstalteten Empfänge für Botschafter. Ihre Position brachte es mit sich, dass viele ihrer Aktivitäten dokumentiert wurden. Die Esterházys begannen schon 1626 mit einer aktiven Archivierung, der erste offizielle Archivar wurde 1747 eingestellt. Dank des Archivs in Schloss Esterházy konnten Haydns Biografen genau rekonstruieren, welche Rechte und Pflichten die Fürsten Esterházy während ihres rund dreißigjährigen Patronats hatten festlegen lassen. Von der Familie existiert ein ausführliches Papiergedächtnis aus Verträgen, Pachtregistern, Inventurlisten, Katalogen, Heiratsverträgen, Petitionen, Testamenten und unzähligen anderen Arten von Bescheiden, die ihrerseits wiederum den Weg in historische Abhandlungen über die Rolle der Esterházys in der kulturellen und politischen Geschichte Ungarns gefunden haben. So hat man bis ins letzte Detail rekonstruieren können, wie Paul Anton und Miklós die Geschicke der Familie und das Geschäft geführt haben: die Behandlung des Personals, die Einrichtung des Haushalts, ihr Umgang mit den Pächtern, die Aufträge an Architekten, der Alltag aus Audienzen, Reisen und Empfängen.
Anmerkung
Zum Teil ist es dieser Fülle an Dokumenten und deren Verarbeitung in historischen Veröffentlichungen zu verdanken, dass Péter Esterházy so anschaulich über all diese Vorväter schreiben konnte.
    Aber tatsächlich: zum Teil. Denn in Harmonia Caelestis sind die Dokumente doch vor allem die Orte, an die ein tänzelnder Péter Esterházy für einen flüchtigen Moment seine Füße setzt. Die Harmonia Caelestis seines musikalischen ›Vaters‹ erschien 1711 und istauch wirklich eine Sammlung religiöser Gesänge, aber was Esterházy ihn darüber hinaus noch erleben lässt, ist größtenteils fiktiv, genau wie die Gespräche zwischen Fürst Miklós und Haydn, die Manöver auf dem Schlachtfeld früherer ›Väter‹ und die vielen Versionen davon, wie sein ›Vater‹ seine ›Mutter‹ traf. Wer sich von den historischen Namen, Orten und Ereignissen täuschen lässt, wird hier und da durch muntere Anachronismen – etwa eine Stoppuhr im siebzehnten Jahrhundert oder einen Fotografen im achtzehnten – darauf hingewiesen.
    Als er Buch 1 von Harmonia Caelestis schrieb, schöpfte Péter Esterházy außer aus seiner Fantasie aus zwei Sorten von Gedächtnissen: dem der Archive und dem seiner Familie, einem Familiengedächtnis überlieferter Geschichten. In Buch II kommt noch ein drittes Gedächtnis hinzu: Péter Esterházys eigenes. Der Schwerpunkt verschiebt sich langsam zum Schicksal der Esterházys, die er gekannt hat: seine Großeltern, Onkel und Tanten, seine Eltern, seine Brüder und seine Schwester. Diese Verschiebung vom Geschlecht zur Familie und von der Großfamilie zur Kleinfamilie macht die Geschichten persönlicher, auch wenn sie in historischen Ereignissen verankert bleiben. Für die Esterházys nahm die Geschichte im 20. Jahrhundert einige dramatische Wendungen. Nach dem Ersten Weltkrieg zerbrach die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie unter den Habsburgern, und die ungarische

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