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Das Buch des Vergessens

Das Buch des Vergessens

Titel: Das Buch des Vergessens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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Szene, ein loses Bild. Die Forscher typisierten sie als ›Schnappschüsse‹ ohne einen Verlauf in der Zeit.
Anmerkung
Sie vermittelten ganz sicher nicht den Eindruck, Teil eines abgespielten Tonbandfragmentszu sein. Alle Wahrnehmungen waren durch Reizung von Strukturen im limbischen System ausgelöst worden, die Reizung der Oberfläche des Schläfenlappens hatte nichts bewirkt.
    Diese Befunde sorgten für eine Neuinterpretation der von den Gründern des Instituts gesammelten Berichte. Der eigentliche Ursprung der Wahrnehmungen lag mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit im limbischen System. Nur durch Entladungen dort, hervorgelockt oder spontan, entstanden die Déjà-vu-Erlebnisse, Traumzustände und Flashbacks. Dass Penfield sie all die Zeit von der Oberfläche her ausgelöst hatte, lag wahrscheinlich daran, dass er durch die Berührung kleine Anfälle herbeiführte, die auch tiefer gelegene Strukturen durcheinanderbrachten. Die Aktivierung von Amygdala und Hippocampus verursachte die seltsamen Zeitverschiebungen, die den Wahrnehmungen ein Gefühl der Bekanntheit gaben. Dadurch bekamen alle Erfahrungen, auch Halluzinationen und Fantasien, den Charakter einer Erinnerung. Sogar wenn jemand während eines Anfalls dachte, er befände sich an einer Stelle, an der er noch nie gewesen war, fühlte es sich immer noch wie eine Erinnerung an. Was sich bei einem Anfall im Gehirn abspielt, ähnelt noch am meisten dem Geschehen in einem Wachtraum: Blitzschnell wird eine zum jeweiligen Gefühl passende Szene montiert, und was in dieser Szene landet, hängt davon ab, was in diesem Moment an Fantasie- und Erinnerungsfetzen greifbar ist.
Total recall
    Gloor präsentierte diese Ergebnisse zum ersten Mal 1981 während der First Wilder Penfield Memorial Lecture, fünf Jahre nach Penfields Tod. In der Folge kam es jedoch nicht zu sensationsheischenden Artikeln in der Zeitung oder Schlagzeilen im Sinne von ›Jüngste Forschung zeigt: kein Tonbandgerät im Gehirn‹. Es ist die Frage, ob solche Artikel, wenn sie denn erschienen wären, etwas an der Überzeugung so vieler Menschen hätten ändern können, dass unser Gehirn alles festhält, was hindurchzieht. Die unauslöschlichen Spuren, die Penfield gefunden zu haben glaubte, scheinensich im kollektiven Gedächtnis reproduziert zu haben. Dort ruhen sie neben anderen beliebten Neuromythen wie ›wir nutzen nur zehn Prozent unseres Gehirns‹ oder ›Frauen sind besser in der Lage, zwei Dinge gleichzeitig zu tun, weil sie mehr Verbindungen zwischen ihren Gehirnhälften haben‹ – Mythen, die geglaubt werden, nicht, weil der Beweis so schlagend wäre, sondern weil sie so gern geglaubt werden.
    »Recall is essentially total«, fasste Kubie Penfields Werk 1952 zusammen.
Anmerkung
Diese Formulierung kommt dem Titel, den Paul Verhoeven seinem Science-Fiction-Film über Gedächtnismanipulation gab, schon sehr nahe.
Anmerkung
In Total Recall meldet sich ein Bauarbeiter, Quaid, gespielt von Arnold Schwarzenegger, bei der Firma Rekall, um sich Erinnerungen an eine Reise zum Mars implantieren zu lassen. Er wählt ein Paket bestehend aus zwei Wochen, inklusive Erinnerungen an ein Luxushotel und Ausflüge, aber ohne Erinnerungen an verloren gegangenes Gepäck, Regentage, betrügerische Taxifahrer und andere Miseren, die im Jahr 2084 auf dem Mars offensichtlich noch immer nicht ausgetrieben waren. Die Erinnerungen werden als komplette Dateien in sein Hirn übertragen und sind, wie sich später zeigt, notfalls auch wieder zu löschen. Die implizite Metapher ist hier der Computer, aber die Vorstellung, Erinnerungen könnten wirklich als separate Einheiten und frei von bereits vorhandenen Erinnerungen hinzugefügt oder gelöscht werden, ist tatsächlich die digitale Version von Penfields Tonbandgerät. Nur Gedächtnisspuren, die man sich als getreue Kopien von Erfahrung vorstellt, lassen sich in willkürliche Gedächtnisse übertragen. Dass Erinnerungen an ein Ereignis immer von früheren Erfahrungen geprägt werden – und zwei Menschen in diesem Sinne auch nie ›dasselbe‹ erleben können –, ist mit der maschinellen Registrierung eines Tonbandgeräts nicht zu vereinbaren.
    Manchmal werden die Metaphern, die für die Vorstellung des absoluten Gedächtnisses stehen – Penfields Tonbandgerät, heute: PC – Festplatte –, für die Beweisführung eingesetzt: Wenn ein mechanisches Gerät in der Lage ist, Reize zu registrieren und unbegrenzt lange festzuhalten, warum sollte ein wesentlich

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