Das Buch des Vergessens
abschreckendes Beispiel für den Feudalismus!« Wenn wir an ein neues Jagdhäuschen kamen, nickten die Jungen nur noch resigniert, »wohl auch deins, was?!, worauf ich sage, was denn sonst!«.
Anmerkung
Gemeinsam mit seinem Bruder zeigte er ihnen wieder einmal den Mittelfinger (dieser kleine Bruder, Márton, sollte insgesamt 29 Mal mit der ungarischen Fußballnationalmannschaft antreten. Esterházy bleibt eben Esterházy!).
In den Siebzigerjahren verbesserten sich die Familienumstände. Mátyás bekam Übersetzungsarbeiten aufgetragen, die besser zu ihm gepasst haben müssen als die Arbeit auf dem Land. Es erschienen englische und deutsche Übersetzungen von ihm, unter anderem über die Geschichte der Benediktiner in Ungarn, über den ungarischen Volks- und Aberglauben und über die Porzellankunst. Péter erinnert sich an die langen einsamen Tage in dieser Zeit, diesein Vater an der Schreibmaschine verbrachte. Unterdessen behielt das Regime die Familie weiter im Auge. Als Großvater Móric, der nach Wien gegangen war, 1960 verstarb, verweigerte man Mátyás mit dem Hinweis auf das ›Staatsinteresse‹ ein Ausreisevisum zum Begräbnis. Péter Esterházy beschreibt auch die dunklen Seiten seines Vaters, seine Trunksucht und seine Aushäusigkeit, aber er ehrt ihn in seinem Buch vor allem als den Mann, den das Schicksal nicht gebeugt hat, der aufrecht blieb. Eines Tages fragt ihn Péter, ob sie eigentlich arm seien. Sein Vater schaut sich kurz forschend im Zimmer um. »›Mja, … also reich sind wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht.‹ Und dass arm nicht das Gegenteil von reich ist, einer, der nicht reich ist, ist noch nicht arm. Armut, das ist noch eins tiefer, ein Habenichts ist arm, wer arm ist, ist ärmer als arm. ›Nein, mein Sohn, wir sind nicht arm, wir leben nur in Armut.‹«
Anmerkung
Verbesserte Ausgabe
Nach dem Fall der Mauer 1989 und dem Abzug der in Ungarn stationierten Sowjettruppen, denen man im Laufe des Jahres 1990 zum Abschied herzlich nachwinkte, wurden Teile des Archivs der ungarischen Staatssicherheit ins Historische Institut in Budapest verbracht und für die Forschung freigegeben. Im Herbst 1999 bittet Péter Esterházy einen Bekannten, er möge doch einmal nachsehen, ob dort auch Material über ihn liege. Vielleicht sei er überwacht oder abgehört worden, vielleicht auch nicht, schreibt er, »aber ich wollte es definitiv wissen, und außerdem hielt ich es für meine staatsbürgerliche, demokratische Pflicht – wenn auch nicht die Klärung der Vergangenheit, so doch die Aufmerksamkeit ihr gegenüber, die sich in der Einsicht in die eventuell vorhandenen Akten offenbart«.
Anmerkung
Weil er noch mit der Abrundung des Manuskripts von Harmonia Caelestis beschäftigt ist, besucht er das Institut erst am 28. Januar 2000 zum ersten Mal. Péter Esterházy betritt es in aller Arglosigkeit. Was kann ihm schon geschehen? Er wird mit Kaffee empfangen, auf dem Tisch liegen drei braune Dossiers. Offensichtlich hat man tatsächlich Akten über ihn geführt. Der Archivar scheint sich nicht ganz wohlzufühlen.
Hie und da berührt er die Dossiers. Dass er noch etwas sagen müsse, fuhr er fort, aber ich solle nicht erschrecken, verächtlich verzog ich den Mund, aber er halte es für seine Pflicht, mir diese Unterlagen zu zeigen und ja … ich würde daran, wie gesagt, keine reine Freude haben und ja, er wisse nicht recht, am einfachsten sei es vielleicht, wenn ich einen Blick hineinwürfe, dann würde ich ja sehen, was darin sei, beziehungsweise, um was es sich dabei handele, und er schob mir die Dossiers zu. Diese knappe Bewegung hatte aus irgendeinem Grund etwas Bedrohliches. Das sei ein Arbeitsdossier, ein Agentendossier, ein Agent, er seufzte ungewöhnlich tief, als ob die Existenz von Agenten ihm persönlich Kummer bereiten würde, dies hier seien Berichte eines Agenten.
Anmerkung
Péter Esterházy schlägt das oberste Dossier auf – und erkennt die Handschrift seines Vaters.
Die Akten machen deutlich, dass Mátyás Esterházy kurz nach dem ungarischen Volksaufstand 1956 unter dem Decknamen Csanádi rekrutiert worden war. Das erste Dossier war am 5. März 1957 angelegt worden. Mátyás Esterházy war ein Informant.
Das erste Mal Auge in Auge mit der Handschrift, die er immer so bewundert hatte und die nun beweist, dass sein Vater ein Doppelleben geführt hat, beginnt seine Hand so zu zittern, dass er sie auf den Tisch legen muss. Kurz darauf verlässt er voller Entsetzen (»niemand sollte jetzt
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