Das Buch des Vergessens
nicht prüfen und untersuchen.
Penfield wird sich nicht gern der Argumente von Freud bedient haben, und Freud sah sich nicht als die Fortsetzung der Romantik.Beide sprachen in ihrer Zeit mit der Autorität der ›Wissenschaft‹, mobilisierten jedoch für die Theorie vom absoluten Gedächtnis jeweils ihre eigenen Techniken, Metaphern und Studien. Dass innerhalb und außerhalb der Wissenschaft, wie auch immer diese definiert sei, so viele Menschen an ein Gedächtnis, das alles festhält, glaubten und glauben, beweist vielleicht, wie schwierig es ist, sich mit dem Gedanken abzufinden, das meiste dessen, was man erlebt, ziehe durch das Gehirn, ohne eine Spur zu hinterlassen, als wäre es gar nicht geschehen. Mit einem Gedächtnis wie ein Sieb könnte man vielleicht noch seinen Frieden schließen, wenn man sicher wäre, dass nur Pulver und Staub hindurchrieselt und wirklich Wertvolles darauf liegen bleibt, aber so ist unser Gehirn leider nicht eingerichtet. Der Gegenverkehr auf dem Nachhauseweg vom 12. April 1982 ist uns nicht mehr im Gedächtnis, aber das gilt auch für das Gespräch, das man einst mit dem Vater geführt hatte, für Mutters köstliche Ochsenschwanzsuppe und für den Spaziergang mit der dreijährigen Tochter. Der Mythos des absoluten Gedächtnisses sollte den Trost bieten, dass nichts davon wirklich weg ist, auch wenn es gerade nicht abrufbar ist. Die alte griechische Vorstellung vom horror vacui, die Angst vor der Leere, in der Physik des siebzehnten Jahrhunderts als ein Anthropomorphismus beigesetzt, ist in der Psychologie noch immer präsent in dem tröstlichen Glauben an ein Gehirn, das alles registriert und nichts vergisst.
Das Gedächtnis der Esterházys
Es kommt nicht oft vor, dass Romane als historische Quelle angeführt werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass man in einer Studie über die Amsterdamer Hausbesetzerkrawalle im Sommer 1983 unter den zitierten Werken A. F. Th. van der Heijdens Der Anwalt der Hähne finden wird oder dass Der Nachfolger von Thomas Rosenboom in den Anmerkungen eines Artikels über den Niedergang des nördlichen Schiffsbaus um 1900 landet, ist gering. Ein Roman gehört zum fiktionalen Genre, und Geschichtsschreibung, so langmütig man die Grenzen auch ziehen mag, zum nichtfiktionalen. Für einen Artikel über die Hausbesetzerkrawalle wird ein Historiker eher Protokolle, Zeitungsberichte, Radioreportagen, Nachrichtensendungen und andere Quellen heranziehen, die den tatsächlichen Hergang der Ereignisse festgehalten haben oder zumindest diese Absicht hatten. So gelangen Historiker dorthin, wo man sie meistens antrifft: in Zeitungs- und Gemeindearchiven, in Ton- und Bildarchiven und an all die anderen Orte, die gemeinsam dazu beitragen, der Gesellschaft ein Gedächtnis zu geben.
Und dennoch kann bei dieser Zweiteilung sich niemand so ganz wohlfühlen. Wer eine Studie über die Klassenverhältnisse im viktorianischen England macht, wird in den Archiven nicht finden, was ihn gerade in höchstem Maße interessiert: die impliziten Codes im täglichen Umgang, die unausgesprochenen Verhaltensregeln, all jene Regeln, die festlegen, was sich gehört und was unschicklich ist, die selbst aber nirgends festgehalten wurden. Dafür wird er andere Quellen zurate ziehen müssen – etwa Romane. Ein Historiker kann diese Codes und Verhaltensregeln in Pride und Prejudice (Stolz und Vorurteil) oder Sense and Sensibility (Sinn und Sinnlichkeit) erkennen, noch immer implizit und unausgesprochen, aber auf eine Weise, die ihm hilft, die viktorianischen Klassenverhältnisse besser zu verstehen. Dass Stolz und Vorurteil genauso gut wie Der Anwalt der Hähne einProdukt der Fantasie ist, bedeutet nicht, dass man aus ihnen keine historischen Erkenntnisse ableiten kann. Offenbar ist ein Roman manchmal genau wie ein Archiv der Fundort für historisches Material.
Die bei näherer Betrachtung ein wenig doppeldeutige Position in Bezug auf das Archiv hat der Roman mit dem menschlichen Gedächtnis gemein. Archive vergleichen sich selbst gern mit einem Gedächtnis, und umgekehrt ist das Gedächtnis häufig als Archiv bezeichnet worden. Aber Erinnerungen sind nicht in Reihen sortiert, kennen keine chronologische Ordnung und gehören auch zu keinen Rubriken. Erinnerungen haben nicht den Alles-oder-nichts-Charakter einer Akte, die entweder da ist oder eben nicht: Sie können mal vorhanden sein und ein anderes Mal nicht. Erinnerungen werden angeknabbert, fallen auseinander, können übereinandergestapelt
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