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Das Buch des Vergessens

Das Buch des Vergessens

Titel: Das Buch des Vergessens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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porträtieren lassen. Hat Poe darauf angespielt? Ist seine Geschichte eine Metapher für die Überlegenheit des Malers, der anders als ein Fotograf wirklich Leben und Ausdruck in ein Gemälde legen kann? Hat er ausdrücken wollen, dass ein Porträt, ›nach dem Leben‹ gemalt, dieses Leben manchmal nicht nur abbildet, sondern zu übernehmen scheint, wie Porträts, gemalt oder fotografiert, das auch mit Erinnerungen machen?
    Poe schrieb schon im Januar 1840, einige Monate nachdem die Neuigkeit über die Daguerreotypie den Ozean überquert hatte, einen Artikel über die neue Technik.
Anmerkung
Er war bezaubert. Er beschreibt genau, wie man bei ›sunpainting‹ erst eine glatte Kupferplatte mit einer polierten Silberschicht bedeckt und diese Oberfläche dann lichtempfindlich macht, indem man sie über Joddämpfe hält. Danach stellt man die Platte vor die Rückwand einer camera obscura, und dann muss »die Linse dieses Instruments auf den zu malenden Gegenstand gerichtet werden. Das Licht macht den Rest.«
Anmerkung
An der Platte kann man zunächst noch nichts erkennen, aber nach einer kurzen Bearbeitung zeigt sie ihre »wunderbare Schönheit«, die nicht in Sprache auszudrücken ist. Nur die Reflexion in einem perfekten Spiegel kommt in die Nähe: »Denn in aller Aufrichtigkeit, die Daguerreotypieplatte ist unendlich (wir verwenden diesen Begriff nicht leichtfertig), ist unendlich viel akkurater in ihrer Wiedergabe als jedwedes Gemälde, das von Menschenhand gefertigt wurde.«
Anmerkung
Die Daguerreotypie ist ein Instrument der Wahrheit und von sublimer Perfektion.
    Das Erstaunen, das Poe empfunden haben muss, als er zum ersten Mal eine Daguerreotypie zu sehen bekam, macht die Bedeutung von ›Das ovale Porträt‹ noch rätselhafter. Die Geschichte erhielt von Poe keine Situierung in der Zeit, es kann sein, dass sie vor der Erfindung der Daguerreotypie spielt. Aber was er den Erzählerüber »die absolute Lebensähnlichkeit« des Porträts sinnieren lässt und der entsetzte Ausruf des Malers »Das ist ja das Leben selbst!«, Kursivierungen jeweils von Poe, sind Reaktionen, die in den ersten Jahren der Daguerreotypie zu Hunderten in Tagebüchern, Zeitungsartikeln und Briefen auftauchen. Es ist, als hätte er den Zauber einer neuen Technik mit einem traditionellen Genre verbunden, so alt wie die Kunst selbst. War Poe zwei Jahre nach seinem Artikel über die Daguerreotypie vielleicht doch enttäuscht über die Lebensähnlichkeit der Porträts, die mittlerweile überall zu sehen waren? War er zu dem Schluss gekommen, dass › unendlich viel akkurater‹ noch etwas anderes ist als ausdrücken können, was einem Gesicht Leben verleiht? Assoziierte er das Festhalten eines Gesichts, angehalten in der Zeit, mit dem Tod? Die Fragezeichen müssen stehen bleiben. Poe hat sich nie über die Deutung von ›Das ovale Porträt‹ geäußert. Sieben Jahre später, 1849, sollte er selbst für ein ovales Porträt Modell stehen, eine Daguerreotypie, und kurz darauf, als wolle er seine eigene Geschichte illustrieren, unter geheimnisvollen Umständen sterben.
    Die Fragen, die Poe mit seiner Geschichte und seinem Artikel aufruft, sind anderthalb Jahrhunderte später noch ebenso essenziell – auch, oder vielleicht gerade, für eine Generation, die mit der Allgegenwart der Fotografie aufgewachsen ist. In unserer Zeit und unserem Teil der Welt beginnt schon bei der Geburt eine intensive fotografische Dokumentation. Aber was man zu Poes Zeiten von einem Porträt verlangte oder erhoffte, ist auch heute noch existent, zum Beispiel in dem Wunsch, von einem verstorbenen lieben Angehörigen neben Fotos auch ein gezeichnetes oder gemaltes Porträt zu haben. Wenn ein solches Porträt zu Lebzeiten nicht angefertigt wurde, gehen manche mit einem Foto zu einem Maler und bitten ihn, den Verstorbenen posthum zu porträtieren. Die Fotografie, die sich seit 1839 technisch so verändert hat, dass ihr Ursprung nicht mehr zu erkennen ist, kann eins offensichtlich nicht leisten, vielleicht dasselbe, wodurch Poe sich gezwungen fühlte, seine Hauptperson Maler sein zu lassen und nicht Daguerreotypist.

Eklipse
    Sogar Menschen mit einem guten Gedächtnis für Gesichter haben in der Regel ein kümmerliches Gedächtnis für die Geschichte von Gesichtern. Wie der Nachbar oder Kollege vor fünf oder zehn Jahren aussah, ist nur mühsam vom Gedächtnis abzurufen, obwohl man ihn auf Fotos aus dieser Zeit wahrscheinlich einwandfrei erkennen würde. Selbst wenn es sich

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