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Das Buch des Vergessens

Das Buch des Vergessens

Titel: Das Buch des Vergessens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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Mathematik. Ich bitte das Organ des Innenministeriums, sofern er bei der Aufnahmeprüfung die notwendige Punktzahl erreicht, seine Aufnahme zu unterstützen. Csanádi.«
Anmerkung
Der Bitte wird entsprochen, per Dienstbericht wird das Innenministerium instruiert, ihn zuzulassen. Péter war die ganze Zeit der Ansicht gewesen, allein aufgrund seiner guten Noten zugelassen worden zu sein. Die Fußballspiele, die er gemeinsam mit seinem Vater besuchte und an die er so schöne Erinnerungen hegte, konnten sie, wie sich jetzt herausstellt, nur dank der Karten besuchen, die der Geheimdienst organisiert hatte. Es war auch der Geheimdienst gewesen, der für einen Pass gesorgt hatte, damit Péter nach Wien reisen konnte. Während der Lektüre des Dossiers müssen all diese Vorfälle und Ereignisse aus seiner Jugend erneut überdacht werden, sie bedeuten nun etwas anderes, sein Vater war nicht der Vater, an den er sich erinnerte, und dadurch ist auch er selbst nichtmehr der Sohn, der er sich erinnert, gewesen zu sein. Die erneute Betrachtung seiner Erinnerungen führt zu dem langen, deprimierenden Strom von ›Verbesserungen‹, die für den Titel seines Buches Pate standen. Was soll er mit seinen Erinnerungen an die Schwungkraft seines Vaters anfangen, seinem Stolz auf jemanden, dem alles genommen worden war und der zugleich alles behalten hatte?
    Seine Bücher und freimütigen Essays aus den Achtziger- und Neunzigerjahren hätte er ohne diesen Stolz nicht schreiben können, schreibt er jetzt, und gerade dieser Stolz ist angegriffen. Die vielleicht traurigste ›Verbesserung‹:
    Mein Vater ist jetzt, erst jetzt, zum Grafen des Nichts geworden. Das hat (wird) jetzt einen schwerwiegenden Sinn bekommen. Bisher war es eher ein schöner und treffender Ausdruck. Ein wahrer Ausdruck, doch siegreich irgendwie: Diese Nichtse, diese Niemande sind deutlich keine Niemande, keine Nichtse, sie sind deutlich äußerst reich (sie zahlen nur weniger Umsatzsteuer als vor hundert, zweihundert, dreihundert, vierhundert Jahren), reich, weil sie ihr Wichtigstes erhalten haben: sich selbst.
Anmerkung
    Der Triumph ist verschwunden. Der Verrat des Vaters ist keine zusätzliche Erinnerung, es ist eine Erinnerung, die alles, was schon da war, verändert und manche der liebsten Erinnerungen unwiederbringlich angegriffen hat. Mit jedem neuen Dossier, das er aufschlägt, sieht sich Péter Esterházy eines Teils seiner Erinnerungen beraubt.
Archiv und Gedächtnis
    In Esterházys Umgang mit dem Historischen Institut, aus dem all dieses Elend zum Vorschein kam, entsprechen das menschliche Gedächtnis und das Archiv anscheinend der traditionellen Rollenverteilung: Péters Erinnerungen waren der Korrektur zugänglich. Sie veränderten sich in Bezug auf Farbe, Gefühl, Geschmack, Bedeutung, sie verwiesen jetzt auf eine andere Vergangenheit als die zu der Zeit, als die Agentendossiers noch ungeöffnet im Archiv lagen. Diese Dossiers dagegen sind geblieben, was sie waren, der schriftliche Niederschlag einer langen Agentenlaufbahn; so lagen sie bei Esterházys erstem Besuch auf dem Tisch, und so wanderten sie anschließend auch wieder ins Archiv. Die Unterschiede zwischen einer Archivakte und einer Erinnerung sind so groß, würde man sagen, dass man sich fragt, warum der Vergleich von einem Archiv mit einem Gedächtnis unter Archivaren so beliebt ist.
    Was Péter Esterházy selbst über Dokumente schreibt, unterstreicht noch einmal ihren besonderen Status als Niederschlag unveränderlicher, nicht mehr zu revidierender Tatsachen. In seinem früheren Werk war er es gewohnt, Sätze an anderen Sätzen zu überprüfen, nicht an der Wirklichkeit. Aber am Anfang von Verbesserte Ausgabe schreibt er: »Der Lügner wird schneller eingeholt als der hinkende Hund: Bisher habe ich mit den Fakten, Dokumenten und Schriften gemacht, was ich wollte. Was der Text wollte. Jetzt geht es nicht mehr. Ich muss alles runterschlucken. Bisher war ich es, der dem Leser in die Kehle drückte, was ich wollte, ›ich war der Herr, die Wirklichkeit war nur ein stummer Diener‹.«
Anmerkung
Dieses neue Verhältnis macht Harmonia Caelestis zu einem Roman und Verbesserte Ausgabe zur Sachliteratur, eine Zweiteilung von Genres, die Dossiers und Dokumente gemeinsam mit der Wirklichkeit und der Wahrheit an die Seite des Archivs rückt.
    Aber darin brauchen wir Péter Esterházy nicht zu folgen. Verbesserte Ausgabe lässt auch eine Lesart zu, die gerade zeigt, wie diffus die Grenzen zwischen

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