Das Buch des Vergessens
unscharf oder kam gar nicht erst auf die Platte. Daguerre sagte, er bezweifle, ob seine Technik sich jemals für Porträtkunst eignen werde, seiner Ansicht nach liege der Ruhm der Daguerreotypie in anderen traditionellen Kunstgenres wie dem Stillleben, der Stadtansicht, der Landschaft.
Auch Morse bekam über die technischen Details des Verfahrens erst nach der offiziellen Bekanntmachung Kenntnis. Kaum zurück in New York, begann er sofort zu experimentieren. Einige Monate später gelang es ihm schon, eine gute Aufnahme von seiner Tochter zu machen. Auf beiden Seiten des Ozeans wurde fieberhaft an einer Reduzierung der Belichtungszeit gearbeitet, aber die Amerikaner holten einen Vorsprung heraus, der dazu führte, dass die ersten Daguerreotypie-Porträts in Amerika entstanden.
Anmerkung
Etwa zehn Jahre später war die Daguerreotypie schon hauptsächlich Porträtfotografie – mit verheerenden Konsequenzen für Porträtmaler, in der Alten wie in der Neuen Welt. 1850 waren von den Dutzenden Miniaturbildmalern in Marseille nur noch zwei übrig, die von ihrer Arbeit leben konnten.
Anmerkung
Sie malten jeweils etwa fünfzig Porträts im Jahr. In derselben Stadt waren fast fünfzig Daguerreotypisten aktiv, die pro Person im Durchschnitt zwölfhundert Porträts im Jahr anfertigten, für ein Zehntel des Preises einer Miniatur. Es gibt vergleichbare Statistiken für andere Städte und Länder. Diese schnelle Expansion hatte mit dem Aufstieg einer relativ wohlhabenden Mittelklasse zu tun. Das Porträt, bislang der Aristokratie vorbehalten, wurde zum beliebten Statussymbol fürdie Bourgeoisie und schließlich, nach weiteren Preissenkungen, ein Massenprodukt.
Die Zeitungsartikel, mit denen die Daguerreotypie beim großen Publikum eingeführt werden sollte, wimmelten nur so vor Metaphern, die der Malerei entstammten. Morse beschrieb die Aufnahmen von Daguerre als ›Rembrandt perfected‹ und pries das schöne ›clair-obscur‹, Poe erläuterte, bei ›sunpainting‹ müsse die Linse auf ›den zu malenden Gegenstand‹ gerichtet sein. Professionelle Daguerreotypisten bedienten sich der Netzwerke und des Jargons der Kunstmaler: Sie arbeiteten in einem ›Atelier‹, stellten in ›Salons‹ aus, und Kunden mussten noch immer ›Modell stehen‹. Zugleich betonten Daguerreotypisten, ihr Verfahren sei selbst dem bestgelungenen Gemälde überlegen.
Ganz zu Anfang wurde die Daguerreotypie als ein Verfahren vorgestellt, das nicht betrügen könne. Es sei das Licht selbst, das da ›male‹. Das menschliche Eingreifen sei lediglich technischer Art. So naiv in unserer Zeit ›ein Foto lügt nicht‹ klingen mag, in den ersten zwanzig Jahren war die wahrheitsgetreue – weil direkte – Erfassung ein festes Element in der Rhetorik der Fotografie. Noch stärker – es war die Fotografie, die unbarmherzig aufzeigte, wie lügenhaft Kunstmaler sich die ganze Zeit verhalten hatten. In einem Artikel aus dem Jahr 1846 schrieb ein Anonymus, die Schmeicheleien der Kunstmaler seien berüchtigt: »Jeder, der zahlt, soll gut, intelligent oder zumindest interessant aussehen – auf dem Tuch. Dieser Missbrauch des Pinsels kann glücklicherweise durch die Fotokunst zurechtgerückt werden. Die Sonne ist kein Profiteur.«
Anmerkung
1841 hatte Ralph Waldo Emerson in seinem Tagebuch die Authentizität der Daguerreotypie gepriesen: »Ein Mensch zankt sich weder mit seinem Schatten noch mit seiner Miniatur, wenn sie von der Sonne gemalt wurden.«
Anmerkung
Viele Fotografen sahen im Untergang der Miniaturkunst die willkommene Sanierung eines fragwürdigen Sektors. Ihre eigene moralische Überlegenheit lag im autonomen Charakter der Daguerreotypie begründet, ihre Kamera war ein wahrheitsliebendes Instrument.
Schon 1859 warnte der Arzt und Essayist Wendell Holmes seine Leser, die Fotografie sei so alltäglich geworden, dass man darübervergesse, wie erstaunlich diese Erfindung doch sei. Zuvor war die Situation folgendermaßen: »Ein Mann betrachtet sich im Spiegel, geht seines Weges, und sofort haben Spiegel und Gespiegeltes vergessen, was für ein Mann er war.«
Anmerkung
Die Fotografie, schrieb er, ist »die Erfindung des Spiegels mit einem Gedächtnis« – die Kursivierung ist seine eigene.
Anmerkung
Das sollte die Metapher werden, in der sich jeder finden konnte: der Fotograf, weil sie unterstrich, wie wahrheitsgetreu das neue Medium war, der Porträtmaler, weil er das Spiegeln der Wirklichkeit gerade nicht als Auftrag seiner Kunst sah.
In der
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