Das Buch des Vergessens
um die eigenen Eltern, Kinder oder Partner handelt, muss man zugeben, dass die Wahrscheinlichkeit größer ist, sich an ein Foto aus dieser Zeit zu erinnern als an das Gesicht selbst. Ihr aktuelles Äußeres scheint den Zugang zu Erinnerungen an ihr früheres Äußeres zu erschweren.
Auch wenn liebe Angehörige verstorben sind, ist die Erinnerung an ihr Gesicht noch nicht sicher. Ein Freund von mir erzählte, er sei nach dem Tod seines Vaters mit einem Foto zu einem Maler gegangen, damit dieser ein Porträt davon anfertige. Es war sehr gelungen, bis auf ein paar Kleinigkeiten wies es große Ähnlichkeiten auf, nicht nur mit dem Foto, sondern mit dem Vater selbst, wie er sich seiner während der letzten Jahren seines Lebens erinnerte. Das Porträt war nun seit etwa fünf Jahren in seinem Besitz. Als er es vor Kurzem wieder einmal bewusst anschaute, merkte er, dass er sich zwar noch erinnerte, welche Einzelheiten er damals als nicht so gut getroffen empfunden hatte, aber er konnte sie nicht mehr sehen. Die Unterschiede waren verschwunden, weil sich in seinem Gedächtnis nichts mehr befand, von dem das Porträt abwich.
Es ist schwierig, auszumachen, was in diesen paar Jahren geschehen ist. Hat sich das gemalte Porträt vor die Erinnerung geschoben, wie eine träge Eklipse, die sich weigert zu verschwinden? Oder ist die Erinnerung vielleicht verblasst und schließlich verschwunden, und wäre das auch ohne Gemälde geschehen? Ganz gleich, was davon zutrifft – der Effekt ist derselbe: Für meinen Freund ist das Porträt, mitsamt allen Abweichungen, zum Gesicht seines Vaters geworden.
Nicht erst mit der Erfindung der Fotografie ist das Bewusstsein entstanden, dass von Porträts, die gegen das Vergessen eingesetzt werden, zugleich für Erinnerungen etwas Bedrohliches ausgeht. Es bleibt auch nicht auf Porträts beschränkt. In seiner Autobiografie La vie de Henry Brulard beschreibt Stendhal die Überquerung eines gefährlichen Bergpasses im Alter von siebzehn Jahren. Sechsunddreißig Jahre später erinnert er sich noch lebendig an seine Angst während der Besteigung, kann sich davon aber keine Bilder mehr vor sein inneres Auge holen. An den Abstieg dagegen kann er sich noch sehr wohl erinnern. »Aber ich will nicht verheimlichen, dass ich fünf oder sechs Jahre später einen Stich sah, den ich sehr ähnlich fand, und meine Erinnerung ist nur noch jener Stich.«
Anmerkung
Im Anschluss verweist er auf das Risiko von Souvenirs:
Das ist die Gefahr, wenn man Stiche von schönen Gemälden kauft, die man auf seinen Reisen sieht. Bald bildet der Stich die einzige Erinnerung und zerstört die wirkliche.
So ist es mir mit der Sixtinischen Madonna in Dresden ergangen. Der schöne Stich von Müller hat sie für mich zerstört, während ich die elenden Pastelle von Raphael Mengs in derselben Galerie, von denen ich nirgends einen Stich sah, vollkommen vor Augen habe.
Anmerkung
Stendhal schrieb diese Zeilen zwischen 1835 und 1836, ein paar Jahre vor der Erfindung der Fotografie. Aber die beunruhigende Anspannung, die er in Worte fasste, sich auf der einen Seite mit Hilfsmitteln zu versehen, damit man nicht vergisst, und gleichzeitig die Sorge um Erinnerungen, die durch das Souvenir ersetzt werden oder eigentlich noch nicht einmal durch das Souvenir, sondern durch die Erinnerung an das Souvenir, eine Erinnerung, die seltsamerweise sehr hartnäckig ist – diese Spannung hat wahrscheinlich nach der Generation, die zum ersten Mal Fotos zu sehen bekam, nie wieder jemand so intensiv empfunden.
Ein Spiegel mit einem Gedächtnis
Der amerikanische Erfinder und Kunstmaler Samuel F. B. Morse hatte das Verfahren schon vor der offiziellen Proklamation der Daguerreotypie am 19. August 1839 kennengelernt. Er war in Paris,weil er sich um die Patente für seinen Telegrafen kümmerte, und ihm waren Gerüchte über eine spektakuläre Technik zu Ohren gekommen, wie man die Bilder einer camera obscura konservieren könne. Er bot Daguerre an, ihm zu zeigen, wie der Telegraf funktionierte, wenn er dafür die Daguerreotypie kennenlernen dürfe. Was er zu sehen bekam, erschütterte ihn. Die Aufnahmen waren so scharf, schrieb er im März 1839 an eine Zeitung in New York, dass Buchstaben auf einem Aushängeschild, die mit bloßem Auge nicht zu lesen waren, mit einer starken Lupe lesbar wurden. Das einzige Problem, erfuhr er von Daguerre, war die Belichtungszeit, die konnte sich nämlich auf eine halbe Stunde belaufen, und was sich bewegte, wurde dadurch
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