Das Buch des Vergessens
Tatsachen, Erinnerungen und Dokumenten sind. Zunächst einmal wird das, was in den Agentendossiers zu lesen ist, nur zum Teil durch den Text bestimmt. Auffällig viele Personen, auf die man Mátyás ansetzt, sind seinem Bericht zufolge politisch nicht mehr aktiv. Sie ›leben zurückgezogen‹, ›halten sich abseits‹, ›haben kein Interesse für Politik‹. Einer ist aufs Land gezogen und fand Arbeit in der Försterei, eine anderer ›ist zu Hause mit seinen Bienen beschäftigt‹. Über einen Onkel von Péter: »Zurzeit ist er Bootsmeister am Római-Ufer, am Békestrand, wo er auch wohnt, politisch ist er völlig passiv.«
Anmerkung
Diese Mitteilungen haben nur Bedeutung vor dem Hintergrund einer Interpretation, die vom Leser abhängt. Hat Mátyás Esterházy diese Menschen verschonen wollen? Hat er seine Aufträge heimlich sabotiert? Hatten sich seine Kontakte wirklich aus der Politik zurückgezogen? Auch Péter Esterházy kann das alles nicht genau wissen, aber er ist zumindest in der Lage, verschiedene Interpretationen zu erwägen, die den Aufzeichnungen Stück für Stück eine andere Bedeutung geben. Dasselbe gilt für eine Notiz aus dem Jahr 1958. ›Csanádi‹ hat den Auftrag erhalten, die ›politischen Meinungsäußerungen während alltäglicher Gespräche‹ zu notieren. Sein Bericht sollte ›vor allem die Meinung klassenfremder Elemente widerspiegeln‹. Das gelang nicht so richtig gut, berichtete ›Csanádi‹: »Im Gespräch warf ich immer wieder die Frage nach den Wahlen auf. Im Allgemeinen beobachtete ich kein großes Interesse daran, was in Csákvár vielleicht daran lag, dass Kirmes war und so das Thema mehr oder weniger unterging.«
Anmerkung
Péter erinnerte sich an ihren Besuch dieser Kirmes. Sein Vater und er, damals acht, hatten mitten unter ihren früheren Angestellten gesessen.
Ziemlich intelligent verraten wir sie, niemand kommt zu Schaden, selbst Namen fallen nicht, und doch ist es so, dass sie bei der Kirmes zusammen zechen, sie sind geehrt und ehren sich selbst, dass sie sich trauen, sich öffentlich mit ›dem Gutsherrn‹ (seinem Sohn) zu zeigen, weil sie meinen Vater einfach gern haben, weil er liebenswürdig ist, auf dein Wohl, Matyi, auf deins auch, Dodó, T [T], , danach geht der Agent nach Hause, seine Kinder hängen an ihm wie Obst am Baum, was hat er mitgebracht von der Kirmes, seine Frau schnuppert misstrauisch an ihm herum, auf der Suche nach fremden Gerüchen, der Agent setzt sich dann an seinen Schreibtisch, seid still, euer Vater arbeitet! und er beginnt zu schreiben: »Im Gespräch warf ich immer wieder …
Anmerkung
Noch einmal: Es sind Péters Erinnerungen, die die Interpretation des Berichteten bestimmen. Ob ›Csanádi‹ dabei eifrig war oder sich im Gegenteil gedrückt hat, ob diese Bemerkung über die Wahlenernst oder ironisch gemeint ist, hängt von Wissen ab, das nicht im Dossier selbst zu finden ist und von Péter mobilisiert werden muss. So steht in Wirklichkeit jede Mitteilung in den Dossiers in einem Rahmen aus Kommentar, Erinnerungen, Deutung, Bestätigung, Leugnen, Erläuterung – es ist, mit anderen Worten, dem Gedächtnis des Sohnes zu danken, dass die Aufzeichnungen des Vaters die Bedeutung bekommen, die es ermöglichen, sie auch wirklich zu lesen: verstehen, was da steht.
Die Lesart Péter Esterházys ist auch nicht das letzte Wort. Er hat zwar einen privilegierten, aber keinen exklusiven Zugang zur Deutung der Dossiers seines Vaters. Nach dem Erscheinen von Verbesserte Ausgabe haben sich verschiedene ehemalige Dissidenten in die ungarische Debatte über Verrat eingeschaltet. Der Schriftsteller und ehemalige Präsident Árpád Göncz sagte, er habe nur einen einzigen Menschen gekannt, der wirklich aus eigenem Antrieb zum Denunzianten geworden war, alle anderen hätten sich darauf eingelassen, manchmal durch Drohungen, manchmal zum Schutz ihrer Familien. Férenc Köszeg äußerte sich in denselben Begriffen: »Mátyás Esterházy war verhaftet und wiederholt misshandelt worden; niemand hat das Recht, ihn zu verurteilen.«
Anmerkung
Ihre Lesarten der ›Csanádi‹-Dossiers hätten wieder andere Interpretationen ergeben.
Darin verbirgt sich eine wesentliche Gemeinsamkeit von Dokumenten und Erinnerungen. Mit den ›Csanádi‹-Dossiers kann das Gleiche passieren wie mit den Erinnerungen von Péter Esterházy: eine Revision, die so einschneidend ist, dass sie auf andere Fakten, eine andere Vergangenheit, eine
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