Das Buch des Vergessens
andere Wirklichkeit verweist. Dokumente brauchen nicht nur menschliche Erinnerungen, um zu verstehen, was sie bedeuten, sie verändern sich auch mit diesen Erinnerungen. Archivare, die ihr Archiv als ›Gedächtnis‹ bezeichnen, haben schlussendlich also recht, auch wenn diese Übereinstimmung tiefer liegt als die schlichte Feststellung, Erinnerungen und Archivakten beschäftigten sich beide mit der Aufbewahrung der Vergangenheit. Was Archivare verwalten, hat etwas mit dem Zerfließen des menschlichen Gedächtnisses gemein. Auch Archive können vergessen.
Vielleicht ist Verrat die rigoroseste Methode, jemandem klarzumachen, dass man über Erinnerungen nicht wie über ein sicher aufbewahrtes Guthaben auf der Bank oder Wertgegenstände denken darf. Nach der Öffnung der Stasiarchive erschienen auch in Deutschland Bücher, in denen Menschen beschrieben, wie sie – unwissentlich – von nahestehenden Freunden, der Familie, manchmal sogar dem eigenen Partner ausspioniert worden waren. Der Lieblingsonkel von Susanne Schädlich erwies sich als Denunziant, und sie beschrieb den zerstörerischen Effekt, den dieses Wissen auf Erinnerungen an ihn hatte.
Anmerkung
Es schien, als hätten diese Erinnerungen jedwede Gültigkeit verloren, sie mussten erneut überdacht werden, nichts von all dem, was er getan oder gesagt hatte, bedeutete noch dasselbe. Es gab ihr eine andere Jugend, als sie sich erinnerte gehabt zu haben. Es sind nicht immer einschneidende politische Umstände, die Erinnerungen angreifen. Wer entdeckt, dass er schon eine Zeit lang betrogen wurde, von einem Freund, Geliebten oder Kollegen, hat danach nicht nur eine Zukunft, die anders aussieht als vor dem Betrug, sondern auch eine andere Vergangenheit. Durch die Erinnerung, etwa an ein gemeinsames Essen, mischt sich nun das Bewusstsein, dass der Betrug schon zu dieser Zeit lief. Erinnerungen haben die Fähigkeit, sich im Nachhinein zu verändern. Die zerstörte Erinnerung ist noch immer eine Erinnerung, aber nicht mehr an das ursprünglich Erinnerte, und daher ist dies auch ein Vergessen. Es ist beides zugleich.
Der Spiegel, der nichts vergisst
In ›Das ovale Porträt‹, einer dieser seltsamen Geschichten von Edgar Allan Poe, die irgendwo mittendrin anfangen, landet ein Mann in einem verlassenen Schloss im Apennin. Für die Nacht bezieht er ein abgelegenes Turmzimmer. An den Wänden hängen überall Gemälde. Im Zimmer liegt auch ein Büchlein mit Beschreibungen der Gemälde. Stundenlang liest er darin und wirft dabei immer wieder einen Blick auf die Gemälde. Als er den Kandelaber verschiebt, fällt das Licht in eine Nische, und plötzlich wird das Porträt einer jungen Frau in einem ovalen Rahmen sichtbar. Das Gesicht, das ihn aus der Nische unverwandt ansieht, erschüttert ihn, er muss die Augen schließen, um seine Ruhe wiederzufinden. Danach betrachtet er das Gemälde eine halbe Stunde lang, um das Geheimnis seiner Wirkung zu ergründen, und kommt zu folgendem Schluss, dass dessen Reiz in der »absoluten Lebensähnlichkeit seines Ausdrucks«
Anmerkung
liege, der ihn beim ersten Anblick verblüfft, überwältigt und ja, erschreckt hatte. Er schiebt den Kandelaber an seinen vorherigen Platz zurück und sucht im Büchlein nach der Geschichte des Gemäldes. Offensichtlich handelt es sich um das Porträt der Braut des Malers. Er hatte sie gebeten, ihm Modell zu sitzen, und die strahlende junge Frau hatte viele Stunden in dem düsteren Turmzimmer verbracht, in dem sich sein Atelier befand. Der Maler war so in seiner Arbeit aufgegangen, dass er nicht bemerkt hatte, wie die Gesundheit seiner Frau während der langen Tage und im unangenehmen Licht dieses Zimmers zu leiden begonnen hatte. Langsam, aber sicher siechte sie dahin. Als sich das Gemälde Wochen später seiner Vollendung näherte, betrachtete er ausschließlich das Porträt. Schließlich fehlten nur noch die letzten Striche an Mund und Augen. Es war fertig. Einen Augenblick stand er wie verzückt vor dem Werk seiner Hände, im nächsten Augenblick aber, während er noch in Anschauung versunken war, begann er zu zittern, wurde totenbleich und schrie: »Das ist ja das Leben selbst! und wandte sich zu seiner Geliebten. – Sie war tot!«
Anmerkung
Ende der Geschichte. Was hat Poe damit sagen wollen? ›Das ovale Porträt‹ erschien 1842. Damals hatte die Daguerreotypie Amerika schon im Sturm erobert, in jeder Stadt oder bei reisenden Daguerreotypisten konnte man sich für nicht allzu viel Geld
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