Das Buch des Vergessens
Porträtkunst übersetzte der Daguerreotypist die Wahrheit des Spiegelbildes am liebsten als ›lebensecht‹ oder als ›das Leben selbst‹. 1849 berichtete ein amerikanischer Daguerreotypist, vor noch nicht allzu langer Zeit sei eine alte Dame in sein Studio gekommen und suchend an den Porträts entlanggegangen, die er dort ausstellte.
Plötzlich stieß sie einen tiefen Schrei aus und sank halb ohnmächtig auf einen Diwan. Man brachte ihr schnell ein Glas Wasser, und nach einer kurzen Weile kam sie wieder zu sich. Sie erzählte, sie habe ein paar Tage zuvor erfahren, dass ihre einzige Tochter, die im Westen lebte, verstorben sei. In der Erinnerung, dass ihre Tochter kurz vor ihrer Abreise ihr Bildnis hatte anfertigen lassen, hatte sie die vage Hoffnung gehegt, in den Räumen des Daguerreotypisten hinge vielleicht ein Duplikat. Sie hatte es gefunden und stand erneut Auge in Auge mit dem fast täuschend echten Gesicht ihres Kindes!
Anmerkung
Das war eine feste Wendung in Memoiren und Artikeln von Fotografen. Noch 1889 beschrieb der Fotograf Bogardus, wie eine Frau mit einem sehr verschmutzten Porträt ihres verstorbenen Mannes zu ihm gekommen war. Er sei dann kurz nach hinten gegangen, um es zu säubern, und als er es ihr wieder hinhielt, habe er hinzueilen müssen, um sie aufzufangen: Auch sie war durch den Schock ohnmächtig geworden. »Es war, als sei ihr Gatte vor ihren Augen aus dem Tode zurückgekehrt.«
Anmerkung
Es handelte sich nicht nur um Fotografenrhetorik. Tagebücher und Korrespondenz zeugen von derBegeisterung, die Menschen empfunden hatten, wenn sie das Porträt eines lieben Angehörigen zu Gesicht bekamen, auch wenn dieser noch lebte. 1843 schrieb die Britin Elisabeth Barrett, wie gern sie von jedem, den sie liebte, eine Daguerreotypie hätte, wegen der Ähnlichkeit, aber auch wegen des Gefühls der Nähe. »Ich hätte lieber ein solches Andenken an jemanden, den ich zutiefst liebte, als das edelste Kunstwerk, das je angefertigt wurde.«
Anmerkung
Familien, die gemalte Porträts besaßen, luden manchmal nach einem Todesfall einen Daguerreotypisten ein, um einige Kopien davon herzustellen, die dann als Andenken verteilt wurden.
Anmerkung
Das Umgekehrte, ein Porträt nach einem Foto malen oder zeichnen zu lassen, wie es heute manchmal geschieht, muss für Barrett und ihre Zeitgenossen abwegig gewesen sein.
Eine Daguerreotypie zu betrachten war eine intime Handlung, und wie der ›wahrheitsliebende‹ Charakter lag dies in der Technik des Verfahrens begründet. Nahezu alle Daguerreotypien waren ›Sechstel‹, sie maßen etwa sieben auf acht Zentimeter. Die Silberschicht, die die Aufnahme enthielt, war empfindlich und wurde von einer Glasplatte abgedeckt. Zum Schutz des Ganzen wurde es in einer Kassette oder einem Etui geliefert, häufig aus kostbarem Material wie Leder, Samt oder gelacktem Holz hergestellt. Das Porträt hing nicht an der Wand, es war also nicht ständig sichtbar. Es zu betrachten hieß, einen Ort zu suchen, an dem das Licht gut war, die Kassette aufklappen, den Samt zur Seite schieben und dann die Oberfläche genau so halten, dass sich das Bild aus der Spiegelung löste. Schauen war persönlich, es muss tatsächlich dieses ›Gefühl der Nähe‹ vermittelt haben, von dem Elisabeth Barrett schrieb. Bei einer Daguerreotypie war der Zuschauer mit dem Porträtierten allein.
Dieser Blick, wie kam der dahin?
Die Mittelklasse, die so auf ihren Wink hin von der Porträtfotografie bedient wurde, war schon vor Daguerres Erfindung angewachsen. Daher gab es auch schon seit einer Weile das Bedürfnis, dasPorträtieren möglichst zu mechanisieren. Der Franzose Chretien hatte 1786 eine ›Physionotrace‹ entworfen, ein kunstvolles Gebilde aus Latten, Rädern, Scharnieren und Rollen, mit dem Gesichtsprofile direkt in Kupfer graviert werden konnten.
Anmerkung
1807 entwarf der britische Physiker Hyde Wollaston die camera lucida. Damit konnte der Zeichner die Form des Gegenstands auf Papier durchpausen, während er durch ein Prisma schaute. Das Gerät befreite den Amateur, in den Worten eines Reisebuchschriftstellers, der selbst damit gearbeitet hatte, »von dem dreifachen Elend von Perspektive, Proportion und Form«.
Anmerkung
Des Weiteren gab es noch ›Pantografen‹ und ›Prosopografen‹. Diese Gerätschaften sind durch das Aufkommen der Fotografie großenteils vergessen, wurden aber in den ersten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts ausgiebig genutzt.
In der Literatur der Zeit ist hier
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